“Du bist die erste Frau, die aus dem Treppenviertel weg will”, sagte ein Bekannter kürzlich. Das klang ein wenig vorwurfsvoll. Überhaupt schauen mich alle an, als wäre ich meschugge, wenn ich von meinem Alcatraz-Erleben in Blankenese erzähle.
Selber haben sie aber noch nie hier gewohnt. Und sind auch nicht so chronisch unfit wie ich. Letztendlich läuft es im Leben doch immer auf diesen Satz hinaus: “Walk a mile in my shoes”. Und so ist es auch mit mir und dem Treppenviertel.
Spätestens, wenn ich mir wieder drei Tage nonstop von morgens bis abends die Nebelwand vor meinem Fenster angeschaut habe, möchte ich Menschen sehen. Belebte Straßen. Cafes. Mich bei dm trösten mit einer Bio-Lebensmittel-Orgie. In Buchhandlungen Bücher kaufen, die ich eh nicht zuende lese, weil ich vor lauter Kopfschmerzmitteln immer die Hälfte vergesse.
Raus komme ich aber nur unter allergrößten Mühen. Also nur an besonders guten Tagen. Denn das Treppenviertel hat einen fulminanten Haken. Wie der Name schon sagt: Treppen.
Auf Treppen kann man schlecht parken. Ergo fehlt es hier an vielen, vielen Parkplätzen.
Hier kann man super wohnen, wenn man topfit ist und in der Lage, mal eben 2km mit ein paar Hundert Stufen bis zur S-Bahn zu joggen. Oder sich Personal leisten kann. Viel Personal. Das alles einkauft und durch die Gassen schleppt. Am Besten verdingt man auch einen Chauffeur. Der einen vor der Tür abliefert und dann zusieht, wo er in diesem Leben einen Parkplatz aufspürt.
Ein Chauffeur mit Smart wäre optimal. Anders kommt man hier kaum durch die Gassen, ohne rechts und links alles abzurasieren. Bäume, Zäune, Autospiegel. Die tiefen Furchen in den Wänden zeugen von verzeifelten Versuchen, zu fahren oder zu parken.
Parkplätze gibt es hier so gut wie keine. Was erklärt, daß hier kürzlich einer für 200.000€ den Besitzer gewechselt haben soll. Für 200.000€ würde ich dann wohl doch lieber in Stockholm ein Wohnklo beziehen.
Ich habe noch nie so viele Schilder über absolutes Halterverbot auf einem Haufen gesehen. Selbst jetzt nach über sechs Wochen muß ich immer wieder nachschauen, ob die kleine Parklücke nicht vielleicht doch ein No Go ist. Natürlich parken viele hier auch im absoluten Halteverbot. Man kann es sich leisten. Oder ist grenzverzweifelt. So wie ich manches mal.
Positiv betrachtet: Ich hab schon viel gelernt hier. Meinen Polo in Parklücken zu manövrieren, in die man normalerweise nur einen Smart bekäme. Wenn man ihn seitwärts hinein schiebt.
Oder auf Millimeter durch Gassen rasen. Um hier durchzukommen, muß man die rechten Reifen nämlich auf dem schmalen Bürgersteig rollen lassen.
Genau so knapp, daß man nicht runterplumpst bei der nächsten Schräge und andererseits nicht anderer Leute Vorgartenzäune, Stelen, Stromkästen oder Baumstämme abrasiert.
Wenn man dies geschickt macht, dann bleiben die Autos auf der linken Seite heil.
Wenden?! In 45 Zügen unter Zuhilfenahme fremder Hauseingänge und Abrasieren von Vorgartendesign kann das funktionieren. Besser, man fährt komplett bis zum Ende durch und hofft, daß dort nicht gerade jemand sein Auto auslädt.
Der nächste freie Parkplatz ist meist zehn Minuten Fußmarsch entfernt. Zehn Minuten Fußmarsch sind meinen Beinen aber oft zehn Minuten zu viel. Und bis ich in S-Bahn-Nähe gefahren bin (7 Minuten), einen Parkplatz gefunden habe (nochmal 5-10 Minuten) und zur S-Bahn reinmarschiert bin (nochmal 4-7 Minuten), könnte ich direkt wieder umdrehen und mich erst mal Zuhause ausruhen. Und dann geht die eigentliche Reise in die City ja erst los. Bis zum Hauptbahnhof braucht die S-Bahn eine knappe halbe Stunde. Und dort gedenkt man in der Regel nicht zu campieren, sondern steigt nur um.
Alternativ gibt es die Möglichkeit, zur Haltestelle der “Bergziege” zu latschen. Bergziege heißt der Bus Nr. 48, der hier eine Rundtour durchs Treppenviertel macht. Da hockt man dann auf einer naßkalten Mauer. Im Dunkeln. Neben einem Park, durch den der Nebel wabert. Ohne Regenschutz. Ohne Beleuchtung. Das ist nämlich eine minimalistische Haltestelle. Besteht aus einem Schild. Alles andere würde vermutlich das Design der Umgebung stören.
Wenn man da so rumsteht, von horizontal peitschendem Regen umtost und sich Szenarien aus Aktenzeichen XY ausmalt, schwant die Idee, daß mit dem Bus zur S-Bahn-Station Blankenese zu fahren, auch nicht so der Burner ist.
Auf dem Rückweg mit diesem Bus hatte ich mal die grandiose Idee, dem Vorschlag von Google Maps zu folgen und auszusteigen, wo es näher ist zu meiner Wohnung. Anfängerfehler. Luftlinie mag Google Maps da durchaus recht gehabt haben. Hier zählt aber nicht Luftlinie. Hier zählen Stufen. Da stand ich dann im Dunkeln.
Erst fand ich die richtige Treppe nicht, weil man exakt richtig zwischen zwei Häusern in den vermeintlichen Hinterhof gehen muß, um “seinen” Aufgang zu erwischen. Und dann stieg ich. Mit Tüten. Ich stieg. Und pausierte. Und stieg. Und pausierte.
200 Stufen später war ich dann oben. Müßig zu erwähnen, daß ich dort nur einmal ausgestiegen bin.
Heißt im Umkehrschluß: ich bin hier fest getackert. Miss Crusoe. Zähle Containerschiffe. Und träume davon, Hamburg kennenzulernen. Wenn ich dann mal komplett zuviel bekomme, fahre ich endlose Strecken mit dem Auto. Die Elbchaussee und ich sind schon ganz dicke. Bald kenne ich jede Stuckverzierung der großartigen Villen dort. Und ich bilde mir ein, daß der Schriftzug des Louis C. Jacob schon begrüßend zuckt, wenn mein Polo und ich dort vorbeibrausen.
Natürlich könnte ich mir Lebensmittel auch liefern lassen. Alles schon geprüft. Nur sind viele Produkte, die ich brauche, nicht im Online-Sortiment. Außerdem stehe ich auf junges Gemüse. Das suche ich mir dann doch lieber selber aus.
Rein logistisch ist das Treppenviertel also schon mal nichts für jemanden wie mich. Das vermutete ich zu 70% vorher. Die restlichen 30% bemerkt man ja leider erst in der täglichen Praxis, wenn man all das, was man sich vorher in der Theorie als grandiosen Workaround ausdachte, nach und nach abhaken muß.
Schade, daß ich diese wunderhübsche und mit viel Liebe und Geschmack eingerichtete Wohnung nicht auf einen Karren spannen und Richtung S-Bahn Blankenese verschieben kann. Das würde die Lage erheblich entschärfen.
Dann könnte ich auch einfach mal spontan aus dem Haus ein halbes Stündchen durch die Gassen von Downtown Blankenese schlendern und Menschen sehen. Die sieht man hier nämlich auch nicht. Oder nur beim Parken. Die, die man sieht, sehen alle sehr sympathisch aus. Angenehm bodenständig. Ich hatte ja vorher so meine Befürchtungen. Sah mich zwischen oberlippengespritzten megablondierten Louis Vuitton-Taschen-Trägerinnen. Ich hab zu lange in Düsseldorf gelebt.
Hier: nix dergleichen. Zumindest nicht im Treppenviertel. Alle, die ich bisher gesehen habe, waren dezent gekleidet, grüßten freundlich und wirkten angenehm unsophisticated. Vielleicht fahren die oberlippengespritzten megablondierten Louis Vuitton-Taschen-Schleudern direkt mit dem Porsche aus der eigenen Garage los. Kann natürlich auch sein.
Jedes Mal, wenn ich in Altona meine Sachen erledige, könnte ich dort den Boden küssen. Menschen! Es gibt etwas anzuschauen. Es pulsiert. Es lebt.
Zum Spazierengehen und mit meiner Freundin Tee zu trinken, komme ich sicher gerne wieder einmal hier hin. Dauerhaft Niederlassen würde ich mich hier in meiner gesundheitlichen Verfassung schlichtweg nicht können. Denn auch ein wunderhübscher und luxuriöser Ar. der Welt ist für mich am Ende nur ein Ar. der Welt. Und das ist irgendwie beruhigend.