Chronisch krank? Ein Fulltime-Job! Beispiel: Arzt-Termine (1/4)

Hier kommt ein Stimmchen aus dem Off. Ihr denkt vermutlich: Ach, die Frau E., die sitzt schön an der Alster und erholt sich von dem einjährigen Streß. Und lernt schön in Ruhe Hamburg kennen. Ganz ehrlich: nach insgesamt über sieben Monaten kenne ich von Hamburg nicht gravierend viel mehr, als vor meinem Hinzug. Und das war nicht viel. Warum?

Die ersten Monate ging jedes Energie-Körnchen für die Wohnungssuche drauf. Nach dem finalen Umzug vergingen locker drei Wochen mit Auspacken und Räumen. Nicht, daß ich so viel besäße. Ich habe ja aussortiert wie eine Wilde letztes Jahr. Aber wenn man jeden Handschlag in einer neuen Wohnung mutterseelenalleine machen muß und vom Umzug so fertig ist, daß man nahezu nonstop krank auf Bett und Sofa dämmert, dauert das eben etwas.

Als ich so einigermaßen Land sah, wollte ich “mal eben” Termine bei Ärzten ausmachen. Die sind für chronisch Kranke ja fast wichtiger als ein Lebenabschnitssmann. Darum hatte ich so viele Jahre gezögert, mein gewohntes Umfeld zu verlassen, obwohl das Klima dort mich unfaßbar schlimm gequält hat.

Daß Facharzttermine in Hamburg zu ergattern, noch schwieriger würde, als eine Wohnung zu finden, ahnte ich zum Glück nicht.

 

Und daß ich nach einem Jahr, in dem ich mich nonstop engagieren mußte, schon wieder nicht in meine Sofakissen plumpsen kann, um endlich zu verschnaufen, ahnte ich zum Glück ebenfalls nicht

Bei Wohnungen erhält man wenigstens mal einen Termin. Bei Ärzten nicht mal, wenn man jemanden kennt, der einen kennt, dessen Hund mit dem Arzthund in die gleiche Huta geht.

Bevor ich mir 44 Bewertungen bei jameda durchlese, von denen vermutlich diverse Ärzte 42 selber geschrieben haben, vertraue ich doch lieber Menschen, die sich schon mal in die Händer derer begeben haben. Meistens gibt es Tipps. Von fünf Tipps fallen 4 gleich wieder weg: einer praktiziert nicht mehr und drei sind locker 1,5 Stunden Gurkerei entfernt. Hamburg ist ja so klein denn nicht. Das wären 1,5h hin, 2h vor Ort, 1,5 zurück. Bei einer Energiespanne von maximal zwei Stunden. Finde den Fehler.

Einer bleibt. Und hört sich super an Nur kurz einen Termin ausmachen und fertig.

Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an. Diese sind…
ICH WEISS WIE DIESE SIND!

Timer stellen.
Inzwischen Facharzt 2 recherchieren.

Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
..

Patzige Stimme einer hörbar jungen Sprechstundenhilfe leiert den Arztnamen runter. Wie kann man so jung und schon so patzig sein?
Ich sage mein Sprüchlein auf.

Sind Sie schon Patientin?
Nein.
Herr-Frau-Dr-Dingens nimmt keine neuen Patienten auf.
Nie mehr?
Doch.
Und?
Und was?
Ab wann wieder?

Termin frühestens 2018. 2018 bin ich entweder tot oder hab das Problem alleine gelöst

 

Jetzt doch zu Jameda. Wenigstens gibt es dort eine Kartensuche. Die denken mit.
Nach der Lektüre von Bewertungen folgt die Analyse: Welche sind orthographisch durchgehend so korrekt, daß sie vermutlich von derselben Person geschrieben wurden. Wer jemals Facebook-Kommentarleisten durchlas weiß: Orthographie ist irgendwann in den 1970ern ausgestorben. Still und leise.

Dann noch die Ärzte streichen, die Oberkoryphäen sind. Wer Oberkoryphäe ist, verbringt seine Zeit meist mehr mit Honeurs, Tagungen und Privatpatienten. Und das bin ich ja dummerweise nicht. Mein Hirntumor bequemte sich unbequem zu werden, als ich in meiner Promotion an der Universität steckte. Hätte er ruhig mal noch ein paar Jahre warten können.

Anruf bei Facharzt 3.
Ich komme sofort durch. Allerdings nur bis in die Warteschleifenansage. Diese wiederholt sich alle 20 Sekunden.
Nachdem ich läppische 25 mal dem Text gelauscht habe, geht eine Dame dran.

Sind Sie schon Patientin?
(Ich traue mich kaum, was zu sagen. Vorsichtig hauche ich: ) Nein, leider noch nicht.
Pause.

Privat oder Kasse?
Kasse. (aka A..karte).
Im Hintergrund schlagen Terminkalenderseiten um.
Raschel, raschel, raschel, raschel, raschel.
Da hätte ich am 21. November wieder was frei.
November?!
Ja.
Wir haben Juni.
Ja.
Ich habe aber fiese Schmerzen und kann seit Tagen nur noch humpeln.
21. November.
Und wenn ich vorher einspringe, wenn jemand absagt?
21. November.

21. November. Na, da hätten wir ja schon mal einen Termin.
Löst zwar nicht im Geringsten mein aktuelles Problem, aber wer weiß, welche orthopädischen Beschwerden ich am 21. November so habe.

Ich bin erschöpft und möchte mich hinlegen. Geht aber nicht. Der Timer zum Sprechstundenbeginn piept. Ich werfe eine Migränetablette ein und greife zum heißgelaufenen Smartphone.

Zurück auf Los zu Facharzt 1

Sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an. Diese sind bla bla und 15-18 Uhr.
Ich schaue auf die Uhr. Wir haben 15.15 Uhr.
Um 15.20 rufe ich wieder an.
Sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an. Diese sind bla bla und 15-18 Uhr.
Um 15.30 rufe ich wieder an.
Sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an. Diese sind bla bla und 15-18 Uhr.

Um 15.35 ist besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
Besetzt.
Anruf.
..

Da. Ein Freizeichen. Ein Freizeichen. Ooooh, ein Freizeichen.
Praxis Dr. Ding und Dong und Klang.
Sprüchlein aufsagen.

Dr. Ding nimmt zur Zeit keine neuen Patienten an. Ich könnte Ihnen in vier Wochen einen Termin bei Dr. Klang anbieten.
Na, super, Dr. Klang habe ich nicht recherchiert.

Wenn man einen Arzt in einer Gemeinschaftspraxis angeboten bekommt wie geschnitten Brot, ist es oft der junge Hase frisch von der Uni

 

Und die übermotivierten Hasen frisch von der Uni haben meiner Erfahrung nach in der Regel nicht die geringste Vorstellung davon, daß der menschliche Körper nicht 1:1 so funktionert wie man es in den Thieme-Büchern so liest. Die meisten sagen zu allem, das man als Symptom berichtet “Das kann nicht sein.”

Wenn man irgendwann mal einen Arzt tot im Sprechzimmer findet, nachdem ich einen Termin hatte, dürften seine letzten Worte bekannt sein.

Während die Dame redet, klicke ich schnell die Webseite der Praxis auf. Und siehe da: Der schmucke Hase ist höchstens 30. Wenn denn überhaupt. Behandeln dürfte der mich gerne mal. Nur nicht als Arzt.

Seine Vita liest sich auch zu stromlinienförmig für meine unstromlinienförmige Anamnese. Experimente dieser Art kann ich mir zeitlich und nervlich nicht erlauben. Ich verstehe ja, daß alle direkt von der Uni erst lernen müssen. Habe ich ja selber in meinem Berufsbereich auch gemußt. Und ich ahne, wie sehr ich meine Kollegen damit gequält habe. Wenn ich aber jetzt einen Monat auf diesen Arzt warte und dann bewahrheiten sich meine Befürchtungen, stehe ich wieder bei Null. Und das kann ich als Dienst an der ärztlichen Alltagserfahrung nicht leisten.

Ziemlich zerknirscht lehne ich ab und falle aufs Bett. Migräne kurieren. Erschöpfung kurieren. Frust kurieren.
Wieder ist ein kompletter Tag mit Krankheitsadministration vergangen. Genauso wie gestern. Und vorgestern. Und vorvorgestern.

Ich habe mich seit Wochen weit über meine Kräfte ausgepowert, um Gesundheitsthemen zu administrieren und bei Ärzten unterzukommen. Alles andere mußte liegenbleiben. Zum ersten Mal im Leben erhalte ich Mahnungen. Und was ist das Ergebnis? Ein Termin Mitte November. Und zwei bereits absolvierte Termine mit ohne Ergebnis.

Ach ja doch eines: ich soll bitte vor der Weiterbehandlung folgende zwei bis drei Fachärzte aufsuchen und dieses und jenes untersuchen lassen. Und dann zurückkommen. So kann man Patienten hervorragend für mindestens ein halbes Jahr loswerden.

Und dann fällt mir plötzlich etwas ein: Es gab doch mal eine Gesetzesänderung, nach der man innerhalb von vier Wochen einen Facharzttermin bekommen soll. Das muß ich gleich mal recherchieren.
Und was dabei wieder alles so passiert ist, das erzähle ich Euch beim nächsten Mal.

P.S. Diesen Text tippte ich, während ich in einer Arzttelefonwarteschleife hing. Komplett. Mit Fotobearbeitung. Das hat einen Amoklauf verhindert.

Hier kannst Du alle Teile meiner 9-monatigen Jagd auf einen Termin bei einem Neurologen in Hamburg lesen:

Teil 1: Chronisch krank? Ein Fulltime-Job! Beispiel: Arzttermine

Teil 2: Die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung (KV)

Teil 3: Facharzt-Termin: Neurologe, Suchmonat 9

Teil 4: Mit ärztlichem Empfehlungsschreiben zum Facharzt-Termin?!