Da Teil 2 meiner MCS-Serie noch geduldig auf Energie zur Vollendung wartet, möchte ich Euch vorher diesen schon fertigen Text hier ans Herz legen. Ich hatte ihn nach einem Termin bei meiner Neurologin in der bisher schlimmsten Schmerzphase seit ewig geschrieben.
Ich sitze also vor der Neurologin und erkläre, daß ich seit 6 Wochen nonstop brüllende Nervenschmerzen in Gesicht und Nacken habe, die sich für meine Schmerzen atypisch lange halten und immer nur extrem kurz auf das reagieren, was meine Schmerzen sonst lindert, wie beispielsweise Sumatriptan Inject plus Osteopathie.
Daß die Schmerzserie rückwirkend betrachtet, begann, nachdem ich Anfang März mit voller Wucht unter einen eisernen Türrahmen dengelte. Daß mein Kopf sich anfühlt, als säße er schief auf. Und daß ich viele Symptome habe, die auf eine Verschiebung des obersten Halswirbels C1 deuten: Migräne, Schwindel, schlechte Sicht. Oder eben eine Stauchung der Bandscheiben.
Daß ich bereits im MRT war und glücklicherweise keine Blutung im Kopf habe und meine Hausärztin nun bitte, das Thema Halswirbelsäule neurologisch abzuklären, vor allem, weil ich dort früher schon Bandscheibenvorfälle hatte.
Ich finde, das war eine gute Management Summary. Viele Patienten sitzen da nur hechelnd rum und lassen den Arzt von Null auf im Dunkeln stochern.
Mein Wunsch, wie die Neurologin reagiert:
Daß sie sich der Halswirbelsäule widmet und unter Berücksichtigung meines ihr bereits 3x kommunizierten und durch Unterlagen erklärten Mastzellaktivierungssyndroms eine vorübergehende Schmerzmedikation findet, bis das vermutlich rein mechanische Grundproblem gelöst ist und es mir wieder normal schlecht geht.
Die Wirklichkeit:
Sie tippt ohne mich anzuschauen.
“Sie sollten ein Antidepressivum nehmen.”
Mein Puls steigt.
Antidepressiva nehm ich nur über meine Leiche nochmal mehr als eine ganz seltene Einzeldosis zum Schlafen ein. Sämtliche Versuche in meiner Schmerzgeschichte, Antidepressiva als Migräneprophylaxe einzusetzen, waren wenig bis gar nicht erfolgreich, brachten 1.000 Nebenwirkungen und waren am Ende mit monatelangen höllischen Entzugsphasen verbunden.
Heute verstehe ich, warum das so war, denn die meisten Antidepressiva sind für Menschen mit Mastzellerkrankungen oder Histaminintoleranz unverträglich. Aber dazu ein anderes Mal.
Ich weiß, daß Antidepressiva in der Schmerztherapie vielen Patienten gut helfen, weil besonders die Klassiker wie Amitryptilin schmerzdistanzierend wirken. Der Vorschlag sollte aber – meiner Meinung nach – nur von Spezialisten in der Schmerztherapie und nach guter Überlegung und Kenntnis über den Patienten erfolgen.
Das heutzutage geradezu wahllose Verordnen von Antidepressiva für alles, was sich ein Arzt nicht ad hoc erklären kann, halte ich allerdings für eine Form von pharmaindustriegesponsorter Körperverletzung
Zurück zu meinem Arztgespräch.
“Würde es nicht mehr Sinn machen, nach der Ursache zu suchen? Schließlich hat mein Kopf einen harten Schlag abbekommen.”
“Die Ursache werden wir wahrscheinlich eh nicht finden.”
“Wir haben ja nicht mal angefangen, zu suchen..”
Dann werde ich neurologisch gecheckt. Reflexe an den Armen, Reflexe an den Knien. Nachdem das Standardprogram durch ist, darf ich mich wieder bekleidet vor sie setzen.
“Ich verordne Ihnen ein trizyklisches Antidepressivum.”
“Das braucht doch sechs bis acht Wochen, um anzuschlagen.”
“Und?”
“Bis dahin ist das Problem, das mein Körper gerade hat, doch vielleicht längst gelöst?”
“Egal: ich verordne Ihnen ein trizyklisches Antidepressivum.”
HÄTTE sie nur eine Sekunde in meine Unterlagen geschaut, würde sie Mirtazapin vorschlagen, da es wohl das einzige ist, das Mastzellaktivität auch noch reduziert und kein histamintriggerndes Trizyklisches.
“Haben Sie die Unterlagen zu Antidepressiva und Mastzellerkrankungen gelesen, die ich Ihnen gegeben habe.”
“Ich habe viel gelesen.”
“Dann wissen Sie ja, daß dieser Typ Mastzellen noch triggert.”
“Die Forschungslage ist da nicht eindeutig.”
Ganz ehrlich, Leute, ich schei.. langsam auf die Forschungslage!
Wenn im praktischen Leben von 100 Mastzellpatienten 70 berichten, daß Antidepressiva ihre Krankheitssymptome verschlimmert haben, dann ist das für mich aussagekräftiger, als eine pharmaindustrie-gesponsorte Doppelblindstudie.
Wenn die Forschungslage nicht eindeutig ist, macht es dann nicht mehr Sinn, die medizinische Entscheidung zu treffen, die für den Patienten sicherer ist?
Und jemanden auf gut Glück mit Psychopharmaka anzufixen, ist das sicherlich nicht.
Mir fällt ein Antihistaminikum ein, das mir eine andere Mastzellpatientin empfohlen hat. Es soll total entspannend wirken, was meinem schmerzverkrampften Körper vielleicht aus dem aktuellen Teufelskreis helfen könnte. Das könnte ich doch vielleicht mal einige Tage nehmen und dann einfach wieder weglassen.
Kennt sie nicht.
Macht sie nicht.
“Amitryptilin oder Saroten, Frau Ersfeld.”
Wieso oder?! Das ist dasselbe, nur ein Handelsname. Will sie meinen Willen brechen, indem sie mir trickreich eine Option läßt oder hat die wirklich keinen Plan, was sie da gerade sagt?
Ist auch irrelevant. Sie bleib bei: Friß – blind auf gut Glück – verordnete Medikamente oder stirb.
“Dann gar nichts.”
Und so habe ich mich mal wieder komplett geschrottet für gar nichts.
Habe mich gedopt wie ein Wilde, um die Fahrt zur Ärztin trotz Chronic Fatigue Syndrom zu schaffen. Bin unter brüllenden Gesichtsschmerzen in die Stadt. Habe halb unter meiner MCS-Maske erstickend im chemikalienausdünstenden Wartezimmer gesessen. Habe mich mental frustrieren lassen.
Und muß den ganzen Weg wieder zurück schaffen. Was mir erst mal nicht gelingt. Ich sitze fast eine Stunde zusammengesunken auf einem Mäuerchen, bis die Kraft reicht, die 400m zur S-Bahn zu gehen. Danach dauert es vier Tage, bis ich auf normal schlecht zurück bin.
Am Ende behielt ich mit meiner Einschätzung der Situation recht
Das Ergebnis? Die Schmerzen waren natürlich zunächst mal noch da. Unverändert. Und es kostete in dem Zustand unfaßbar viel Energie, an mich zu glauben und nach sechs Wochen rund um die Uhr Schmerzen der Stufe 9 nicht nach dem kleinen Strohhalm zu greifen, den die Ärztin verordnen würde. Ich erlitt nach dem Besuch noch mehr psychischen Streß als vorher, da ich nun offiziell gegen das System agierte.
Aber es hat sich voll gelohnt, das Martyrium noch weitere zehn Tage durchzuhalten! So wie sie gekommen waren, verschwanden die 24/7 Schmerzen dann auch wieder.
Nun bin ich zurück auf “normal schlecht” und unfaßbar glücklich, zu all den zwingend notwendigen Medikamenten nicht noch eines oben drauf geschüttet zu haben, das wieder 500 neue Wechselwirkungen und Nachteile produziert hätte und über längere Zeit wieder ausgeschlichen hätte werden müssen.
Wenn ich mir in der Zeit das Leben genommen hätte, wäre die Ärztin fein raus gewesen: Sie hat Antidepressiva vorgeschlagen und die Patientin hat sie abgelehnt. Dabei wäre der wahre Grund verschleiert gewesen: den letzten Kick für einen Schritt über die Klippe hätte das totale Unverstandensein durch das Gesundheitssystem gegeben.
Wenn dieses schreckliche Arzt-Erlebnis ein Einzelfall wäre, würde ich das nicht aufschreiben. Ist es aber nicht.
Als Chroniker erlebt man Jahrzehnte wie bei “Täglich grüßt das Murmeltier” solche 5-Minuten-Nicht-Nachdenk-Abfertigungen. Grob geschätzt verlaufen 80% aller Arztbesuche in dem Stil. Und das geht nicht nur mir so, sondern fast allen, deren Geschichte ich kenne. Gerade, wenn man an Krankheiten leidet, die nicht in ein 0815-Leitlinien-Konzept passen und zack, zack mit einem einzigen Laborwert zu eruieren sind.
Selbstverständlich gibt es auch gute Ärzte! Welche, die menschlich sind und sich Gedanken machen. Die erst den Patienten kennenlernen möchten, bevor sie eine Standardtherapie über ihn ausschütten. Die alternativ denken und individuell. Und sich bemühen, auf Augenhöhe zu kommunizieren. Obwohl all das nicht als ärztliche Leistung finanziell von den Krankenkassen honoriert wird. Eher im Gegenteil.
Leider muß man sie suchen, wie eine Stecknadel im Heuhaufen. Und locker ein Jahr auf einen Termin warten. Was man sich manchmal gesundheitlich nicht erlauben kann. Aber wenn man sie gefunden und einen Termin ergattert hat, gibt man sie nie wieder her. Und reist meilenweit – koste es, was es wolle.
Ich bin sehr froh und dankbar, daß ich in dem ein oder anderen Bereich hier in Hamburg bereits so tolle Behandler endeckt habe! Und solche menschlichen, klugen Ärzte, deren Ego einen mitdenkenen Patienten verkraftet, wünsche ich Dir auch!
Und nun? *hysterischlach* Wer meine Story, wie ich wenigstens bei dieser Ärztin unterkam, noch nicht kennt:
Teil 1: Chronisch krank? Ein Fulltime-Job! Beispiel: Arzttermine
Teil 2: Die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung (KV)
Teil 3: Facharzt-Termin: Neurologe, Suchmonat 9
Teil 4: Mit ärztlichem Empfehlungsschreiben zum Facharzt-Termin?!
Haftungsausschluß: Ich bin Patientin und keine Ärztin, Apothekerin oder sonstiges medizinisches Fachpersonal. Was ich hier schreibe, ist meine persönliche Erfahrung aus über 20 Jahren chronischer Krankheit und der Beschäftigung als Nicht-Medizinerin mit meinen diversen Krankheitsbildern. Mein Ziel ist es, durch möglichst einfache Erklärungen komplexe Sachverhalte zu beschreiben und so auf mögliche Krankheitsursachen hinzuweisen.
Ich versuche, Erklärungen zu medizinischen Sachverhalten so gut wie möglich zu recherchieren, kann hier aber medizinische Diagnose(n), Beratung und Behandlung durch einen Arzt nicht ersetzen. Da sich Forschung ständig weiterentwickelt und ich hier sowieso nur eine Einführung ins Thema bieten möchte, empfehle ich, sich selber weiter in die Themen hinein zu lesen.
Meine Texte dürfen nicht als Grundlage zur eigenständigen Diagnose und Beginn, Änderung oder Beendigung einer Behandlung von Krankheiten verwendet werden. Konsultiere bei gesundheitlichen Fragen oder Beschwerden immer einen Arzt Deines Vertrauens. Sofern Du dort jemals einen Termin erhälst.