Me-er-leben

Bei jedem Zurückweichen nahm das dunkle Wasser etwas Sand mit.
Einige Körner nur je Zentimeter, aber einige Körner je Zentimeter sind viele Hundert je Meter. Sind kleine Tassen voll, sind Eimer, sind ganze Kisten jeden Tag.

Es war wie mit den Männern.

Jeder Einzelne schien ohne Spuren zu verschwinden.
Schien wie eine glitzernde Reflektion auf der spiegelnden Oberfläche. Aber unten, tief unter der Welle der Lust und des Augenblicks, schwand die Substanz.

Irgendwann würde die Seele unterspült sein wie ein Felsen, würde ein Stück abbrechen, sich lösen vom stabilen Ganzen. Würde langsam untertauchen und nur die sich kräuselnde Wasseroberfläche würde für einen kurzen Augenblick verraten, daß dieser Teil existiert hatte.

Zurück bliebe die schroffe Kante, die kalte Wand, an der sie zerschellen.

Die Hartnäckigen unter ihnen würden es wieder und wieder versuchen, würden runtergleiten an der Haltlosigkeit und irgendwann würden auch sie den Weg wählen zu den kleinen, den milden Hügeln neben dem Monolithen.

Inzwischen war es Abend geworden.

Das Geschrei der Kinder ist mit dem hölzernen Geklapper der Bollerwagen in der Ferne verschwunden.
Und selbst die Liebespaare hatten sich zurückgezogen in ihre Ferienwohnungen. Gelbes Licht leuchtete vereinzelt durch die Dünen.

Ab und an durchdrang das dumpfe Schlagen einer Autotür die Stille.

Tschüß, machts gut. Ihr auch. Danke für den schönen Abend.

Vermutlich winkten sie und gingen Arm in Arm zurück ins Haus.

Vielleicht würden sie sich lieben oben im Kiefernholzbett.

Als die Tür ins Schloß gefallen war, lösten die Gastgeber die Umarmung und wandten sich dankbar dem verdreckten Geschirr auf dem Eßtisch zu.

Er trug schweigend die leeren Weinflaschen in den Keller und zückte sein Handy im Halbdunkel des feuchten Raumes.
Sie drehte das Spülwasser aus, um seinen Schritten zu lauschen.

Als sie verstummten, zu lange, um nur Flaschen aufzureihen neben den Mülltonnen, preßte sie die Lippen zusammen und starrte auf die gemusterten Kacheln vor sich.

Sie würde nicht fragen, wenn er hinter ihrem Rücken durch das Wohnzimmer zur Treppe ging. Sie würde nichts mehr fragen, sondern sich die nassen Hände abtrocknen und die Windjacke vom Haken nehmen.

Draußen war Wind aufgezogen.

Die ersten Meter auf dem Weg durch die Dünen beschienen kleine Lampen den Weg. Dann wurde es dunkel.
Mit jedem Schritt, den sie sich dem Wasser näherte, kehrt Ruhe in ihr ein. Eine angenehme, eine betörende Ruhe.

Die Frau am Wasser war müde geworden.

Langsam zog Feuchtigkeit durch ihre dünne Stoffhose. Als sie gerade aufstehen wollte, sah sie eine schlanke Frau im Dunkeln vorbeilaufen. Die Frau ging auf das Wasser zu, blieb vor den flachen Wellen stehen und schaute in die Ferne.

Ob sie glücklich war? Als sie sich mit der rechten Hand durch die langen, braunen Haare strich, blitzte ein goldener Ring auf.

Ehe, Schatz. Wir sind doch auch so glücklich, hatte Jan erwidert.

Was konnte sie dagegen sagen?

Natürlich waren sie auch so glücklich. Aber es wäre anders, mein Mann sagen zu können.
Es hörte sich einfach anders an zu sagen: Mein Mann ist beruflich viel unterwegs. Mein Mann kommt später nach.

Ändern würde das vielleicht nichts an den vielen Stunden, in denen sie auf dem Sofa saß und abwesend dem Geflimmer auf dem Bildschirm folgte.

Aber wenn sie dann, weit nach Mitternacht, endlich müde geworden die Kekskrümel von dem hellen Sofa schubste, könnte sie “Morgen kommt mein Mann.” vor sich hinmurmeln.

Und mit wohliger Vorfreude die Bettdecke bis an ihr Kinn ziehen.

Warum tat er ihr diesen kleinen Gefallen nicht einfach?

Sie spürte, wie Wut in ihr aufkeimte.
Diese Ohnmacht, die ihr jedes Mal die Tränen in die Augen trieb, wenn er ihre Bedürfnisse mit diesem Satz vom Tisch fegte.

Und diese Frau am Wasser, was stellte sie sich so an?

Grübelte vermutlich über irgendwelche vergessenen Einkäufe ihres Gatten nach. Sie konnte den Anblick der schlanken Gestalt nicht länger ertragen.

Mit Tränen in den Augen stand sie auf, klopfte sich den feuchten Sand von der Hose. Ein kleines Rinnsal stäubte Korn für Korn zurück auf den Strand.

Wie die Zeit.

Ihre Zeit.

Sie würde Jan ein Ultimatum stellen. Das letzte. Es mußte das letzte sein dieses Mal.

In dieser Nacht schlief sie unruhig. Sie stand auf einer hohen Klippe.
Der Wind blies ihr ins Gesicht.
Hinter ihr zog sich das Land zurück.
Der Felsen, auf dem sie stand, wurde immer kleiner.
Gelähmt und unfähig zu handeln, stand sie auf dem vermoosten Fels.

Als der Wecker sie aus dem Schlaf riß, war sie am ganzen Körper wie versteinert.

Ohne zu Frühstücken zog sie sich an und lief den Weg zum Strand hinunter.
Leichter Nebel lag über der Landschaft. In der Ferne sah sie Menschen am Wasser stehen.

Beim Näherkommen erkannte sie eine trainierte Gestalt, die sich wie eine Skulptur im Sonnenlicht vom Wasser abhob.

Jan. Er war gekommen!

Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer.

Sie wollte losrennen, doch plötzlich bemerkte sie zwei Polizisten, die langsam auf Jan zugingen.
Der Größere legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach auf ihn ein. Jan schaute zu Boden und reagierte nicht.

Sie blieb stehen.

Mitten in der Gruppe, fast im Wasser, lag etwas Großes auf dem Boden.

Jan sank daneben in die Knie. Durch die Beine der Umstehenden identifizierte sie einen Körper.
Lange, braune Haare kontrastierten mit dem hellen Sand.
Wortfetzen drangen zu ihr hinüber. Kommen Sie mit. Sie können Ihrer Frau nicht mehr helfen.

Schlagartig stieg eisige Kälte in ihr auf. Ihr wurde schwindelig. Betäubt drehte sie sich um und ging langsam durch die Dünen zurück ins Haus. Hier saß sie am Küchentisch und blickte aus dem Fenster.

Drei Tage und drei Nächte lang.

Am vierten Tag kam eine SMS. “Willst Du mich heiraten? Jan.”

© 2007