Kein Regen fließt vom Himmel nieder.
Keine Pfützen bilden kleine Seen auf dem Weg.
Nicht mal Nebel zieht wabernd durch die Buchsbaumhecken.
Ein strahlender Tag.
Deine Musik klingt durch die warme Sommerluft.
Westernhagen singt “Lola Blue”.
Und Sonnenblumensträußchen weisen uns den Weg.
Wir folgen Dir, so weit wir können.
Knisternd sammeln sich die Schritte hinter Dir im Kies.
“Bitte nehmen Sie hier Abschied.”, sagt die Predigerin und blickt ungerührt auf uns, die dunkle Masse.
Zögernd lösen sich einzelne und treten nach vorne. Plötzlich steht er vor mir, der große Wagen, der Eichensarg darin. Es riecht nach feuchten Steckblumen. Fröstelnd lege ich die Hand auf das glatte Holz.
In Sekundenschnelle ziehen Bilder aus den letzten dreizehn Jahren vor meinem Auge vorbei.
Wie die Tür zum Tanzstudio aufgeht und mit energischem Hallo eine Neue an meine Seite tritt.
Mahagonibraune Wallemähne, sonnenstudiogeschmorte Haut, blutrote lange Nägel. Was für eine Tussi!, dachte ich.
Nur eine halbe Stunde später das erste gemeinsame Lachen. Tolpatschigkeit verbindet. Und nicht nur die.
Höhen und Tiefen haben uns zusammengeschweißt. Mal standest Du an meinem Krankenbett, mal ich an Deinem.
Und so manches Mal, wenn ich schon das Gähnen unterdrückte in unsere durchtanzten Nächten, habe ich mich gefragt, wer von uns beiden eigentlich ein Jahrzehnt älter ist.
Wenn ich jetzt loslasse, wirst Du fort sein.
Und mit Dir die brüchige Stimme, die einmal ein festes Lachen war.
Die ausgefranste Perücke, die Du gegen Deine langen roten Locken eintauschen mußtest.
Und die Hoffnung auf ein Wunder, die am Ende verzweifelte Lüge war.
Ich will den Deckel öffnen und Dich grinsen sehen.
“Reingefallen, Pia.”, sollst Du sagen und Deine dunkelbraunen Augen schelmisch blitzen.
Mein ganzer Körper krampft sich zusammen. Ich halte mich an dem Sarg fest. “Komm.” Silke schiebt mich weiter.
Wir haben die Schlange hinter uns aufgehalten.
Auch für Unendlichkeit gibt es Regeln.
Als ich wieder im Flugzeug sitze und durch den Tränenschleier auf das Lufthansa-Logo vor mir starre, plumpst ein fülliger Mittdreißiger neben mir in den Sitz.
“War DAS nicht ein wunderschöner Tag heute?”, strahlt er mich an.
“Kein Regen.”
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Diesen Text schrieb ich 2005 auf dem Heimflug von der Beerdigung meiner ältesten Freundin Tina. Einer der traurigsten Tage meines Lebens. Sie war für mich die große Schwester, die ich mir immer gewünscht hatte.
Sechs harte Jahre hatte sie tapfer gegen Krebs gekämpft. Ich habe viel gelernt in den Jahren des Begleitens. Sterben ist nicht wie in Filmen. in Wirklichkeit ist Sterben brutal. Der Krebs zerfrißt einen Menschen bis zur Unkenntlichkeit und die wenigsten Mediziner haben den Mut, schwerst Kranke gehen zu lassen, wenn weitere Operationen nur sinnlose Qualen wären.
Ich vermisse Dich bis heute, Tina. Danke, daß ich Deine Freundin sein durfte.