Das Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS) ist eine – selbst viele Jahre nach ihrem Bekanntwerden – leider nach wie vor bei Ärzten wenig bekannte Multisystem-Erkrankung, die in ihrer primären Form geschätzt 17% der Bevölkerung betrifft. Rechnet man alle Fälle von sekundärem MCAS und sämtliche Formen der Mastozytose dazu, dann ist die Dunkelziffer der Betroffenen enorm hoch.
Wegen ihrer vielen Gesichter wird sie aber oft nicht diagnostiziert. Sie ist sozusagen die Mutter von vielen anderen Diagnosen wie zum Beispiel Fibromyalgie, Depression, Reizdarm, Interstitielle Zystitis, Angstzuständen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, MCS.
“Mastzellwas was?!” höre ich auch inzwischen 7 Jahren nach meiner Diagnose im Jahr 2013 immer wieder, wenn ich erwähne, neben meinen chronischen Schmerzen noch vom Mastzellaktivierungssyndrom geplagt zu sein. Deshalb erkläre ich heute die Basics zu dem Krankheitsbild.
Bei einigen, die mir über Ihre Krankheiten schreiben, höre ich viele der Symptome einer Mastzellerkrankung. Wenn ich mit diesen Infos auch nur einem von Euch seine langjährige Odyssee von Arzt zu Arzt verkürzen kann, würde ich mich riesig freuen!
Was ist eine Mastzelle?
Mastzellen, ein Typ von weißen Blutkörperchen, haben wir alle im Körper. Sie sind mit rund 200 Botenstoffen, z.B. Histamin, Heparin, Tryptasen, Zytokinen, gefüllt und wuseln durch unser System mit dem Job, Pathogene abzuwehren, Wunden zu heilen oder auf Allergene zu reagieren. Im Fall der Fälle erbrechen sie ihre Stoffe in unser Gewebe, was zu vielen Nebenwirkungen führt.
Bei einer Mastzellerkrankung, produziert der Körper im Knochenmark entweder zu viele Mastzellen oder entartete Zellen. Es gibt viele Varianten dieser Erkrankung!
Welche Formen von Mastzellerkrankungen gibt es?
Wenn Ärzte überhaupt schon mal davon gehört haben, dann meist von der Kutanen Mastozytose, bei der Patienten unzählige braune Flecken auf der Haut haben. So rupften mir Ärzte schon einige Mal den Ärmel hoch, schauten auf meinen ungepunkteten Arm und sagten: Sie haben keine Mastzellerkrankung. Ende der Diagnostik.
Tatsächlich aber leiden die meisten Patienten an anderen Formen dieser Erkankung. Bei der “Systemische Mastozytose” produziert der Körper aufgrund einer genetischen Veränderung neben gesunden Mastzellen viele entartete Varianten, die den Körper besonders aktiv und unnötig mit ihren Botenstoffen fluten.
Mehr als die Hälfte der Patienten hat das (relative) Glück, an Formen der zwar nicht heilbaren und stark belastenden, aber auch nicht akut lebensbedrohlichen Indolenten Systemischen Mastozytose zu leiden. Bei anderen nimmt sie mit der Aggressiven Systemischen Mastozytose oder Mastzellleukämie bzw. ähnlichen Varianten Formen von Leukämie an. Mit leider schlechter Prognostik.
Durch den Ursprung von Mastzellen im Knochenmark, handelt es sich um eine hämatologische Erkrankung. Da einige Formen der Erkrankung Arten der Leukämie sind, werden sie oft in onkologischen Teams mit behandelt.
Eine Diagnose mit identischen Symptomen, aber noch nicht genau erforschter Ursache ist das Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS = Mast Cell Activation Syndrome), bei dem die Mastzellen hyperaktiv ihre Botenstoffe ausschütten.
Dies machen sie entweder von sich heraus, d.h. wegen einer nachgewiesenen körperlichen Ursache im Mastzellbereich, dann handelt es sich um ein primäres Mastzellaktivierungssyndrom. Oder die Mastzellen handeln so, weil sie durch eine andere Störung im körperlichen System oder der Umwelt dazu veranlaßt werden. Zum Beispiel, weil der Patient in einer Wohnung mit Schimmelbefall lebt. Oder auf bestimmte Stoffe in Nahrungsmitteln reagiert, wie z.B. Salicylate, Benzoate, Oxalate, Nickel, Histamin, Peptide, Laktose. Dann nennt man die Krankheit sekundäres Mastzellaktivierungssyndrom.
Bisher gibt es in Deutschland noch keinen eigenen Diagnoseschlüssel nur für MCAS, was leider sehr viele Ärzte dazu veranlaßt, sie als nicht existent zu bewerten. Hier verwendet man für die meisten Varianten Q82.2. Auf internationaler Ebene existiert seit Herbst 2018 der Schlüssel D 89.4.
Symptome des Mastzellaktivierungssyndroms (MCAS)
Die Symptome der MCAS gleichen weitgehend der einer Mastozytose und betreffen den kompletten Körper. Das liegt daran, daß die Botenstoffe im ganzen System wirken. Typische Symptome eines Mastzellaktivierungssyndroms sind beispielsweise:
- Herzrhythmusstörungen
- Übelkeit
- ständige Nasennebenhöhlenentzündungen
- Muskelkrämpfe und -schmerzen
- anaphylaktischer Schock
- Angstzustände, Panikattacken
- leicht brechende Knochen und Zähne durch Folgeerkrankung Osteoporose
- Unverträglichkeit von vielen Nahrungsmitteln, Gewürzen, Medikamenten und Zusatzstoffen in Medikamenten
- Symptome von Magen-Darm-Grippe, dauernder Durchfall
- brennende Augen
- “chronische” Zahn-oder Kieferschmerzen ohne zahnärztlich erkennbare Ursache
- verschwommenes Sehen
- Sodbrennen
- hohe Empfindlichkeit für Lärm, Streß und andere Reize
- “schwerer” Herzschlag, Herzrasen
- Depressionen und Stimmungsschwankungen bis hin zu Suizidgedanken ohne erkennbaren Grund
- Konzentrationsstörungen, Brain Fog
- abnorme Erschöpfung, Chronic Fatigue Syndrom
- Chemikaliensensibilität
- Schweißausbrüche, Hitzewallungen
- chronischer Husten
- Zungenbrennen
- blaue Flecken, ohne sich gestoßen zu haben
- ein Gefühl, konstant schwere Grippe zu haben
Von Kopf bis Fuß, von Knochen über Organe über Muskeln, Gelenke bis ins Gehirn. Körperlich, psychisch, es ist alles dabei. Hier eine ausführliche Liste von Symptomen der Mastozytose und des Mastzellaktivitätssyndroms.
Parallelerkrankungen
Interessanterweise tritt das Mastzellaktivierungssyndrom oft im Trupp mit bestimmten anderen Krankheiten auf:
- Myalgische Encephalomyelitis (ME/CFS)
- Multiple Chemikalien Sensitivität (MCS)
- Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS)
- Instabile Halswirbelsäule, Hypermobilität
- Posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom (POTS)
Jeder Patient hat seinen eigenen Mix aus Symptomen und Parallelerkrankungen. Und darin Schwerpunkte, die wiederum von Zeit zu Zeit variieren. Ich fühle mich mit meiner Mastzellerkrankung wie eine Wanderbaustelle. Für Außenstehende ist es wahnsinnig schwierig zu verstehen, daß all die unterschiedlichen Beschwerden eigentlich “nur” aus einer Krankheit resultieren und man kein Hypochonder ist, der ständig neue Probleme sucht.
Alltagsleben mit MCAS
In einem Infoschreiben hat die Mastocytosis Society Canada schon im Jahr 2012 sehr gut beschrieben, wie das Leben mit dieser Krankheit für viele von uns aussieht. Den kursiven Text habe ich aus dieser Broschüre übersetzt:
Mastozytose und MCAS sind unheilbare und lebensbedrohliche seltene Erkrankungen und in den meisten Fällen sind die Symptome außerordentlich schwierig zu managen.
Die meisten Mastzell-Patienten leiden kontinuierlich and leben extrem eingeschränkt, weitgehend isolierte, ruhige Leben, um bestmöglich ihre nächste Lebensumgebung kontrollieren zu können.
Sämtliche Formen der Mastzellerkrankungen sind in vielen Fällen lebensbedrohlich und [die Patienten ] erleben eine kontinuierliche Steigerung ihrer Symptome und die Ausbildung neuer Symptome.
Selbst die grundlegendsten täglichen Aktivitäten fördern das Leiden.
Beispielsweise werden Symptome oft getriggert von simplen Aktivitäten wie
- Duschen/Baden
- Chemikalien aus der Umgebungsluft einatmen (z.B. neue Möbel, Farben, Duftstoffe, Gummi, frisch ausgedruckte Seiten, Teppiche etc.)
- körperliche Bewegung inkl. nur Gehen oder “mal eben” die Waschmaschine füllen
- Essen oder Getränke
- geistiger Anstrengung wie Konzentration oder Lernen
- Temperaturschwankungen
- sich länger mit jemandem unterhalten
- soziale Aktivitäten
- Hormonschwankungen
- Wetterwechsel, Klima
- seelischer Streß
Viele Menschen mit dieser Krankheit können sich auf keinerlei Termine festlegen, da ihre Symptome von Tag zu Tag bzw. Stunde zu Stunde variieren. Sie sind konstant symptomatisch [..]
Wenn Patienten gegen die Symptome angehen, mit dem Glauben, sich mehr anstrengen zu müssen oder einzelne Aufgaben “eben noch” zuende zu bringen (z.B. Wäsche waschen, einkaufen, Putzen, einen Besuch) werden die Symptome noch schlimmer und verlängert und können Tage, Wochen oder Monate andauern. [..] Es gibt nichts, das die Symptome zwingt, sich konstant zu verhalten, auch nicht die Medikamente.
Die Patienten “sehen oft normal oder gesund aus für andere” [..] Viele werden nur selten außerhalb ihrer allernächsten Lebensumgebung gesehen, weil es so wenige Momente gibt, in denen es ihnen ausreichend gut geht. Als Folge davon verstehen die wenigsten Menschen das Krankheitsbild.”
Infolge des Nichtverstehens bzw. trotz deutlicher Erklärung Nichtverstehenwollens werden für Mastzell-Patienten lebenswichtige Bedürfnisse wie z.B. frische, chemikalienarme Luft immer wieder von Nicht-Betroffenen als Spleen abgetan oder zur Diskussion gestellt.
Am Schlimmsten für mich ist, daß ich auch nach so vielen Jahren, in denen ich damit schon zugange bin, auf nahezu null Verständnis bei Ärzten treffe. “Schon wieder so eine Modekrankheit” ist ein typischer Spruch, mit dem mein Leid oft ohrfeigenartig abgewatscht wird. Bis heute gibt es in Deutschland nahezu keine kassenärztliche Anlaufstelle für eine dauerhafte Betreuung.
Und so irren wir alle mehr oder weniger alleine herum, auf Goodwill von wenigen Ärzten angewiesen, die bereit sind, sich wenigstens rudimentär einzulesen. Aus dem Grund begann ich schon kurz nach meiner Diagnose im Jahr 2013 darüber zu bloggen. Heute – in 2020 – gibt es schon viele tolle Informationsseiten von Mastzell-Vereinen. Wollen wir hoffen, daß seitens der Weiterbildung von Ärzten und Krankenkassen nun endlich auch ein dringend notwendiger Schritt erfolgt!
Fazit: Das Leben mit dem Mastzellaktivierungssyndrom ist nicht einfach, denn die Symptome sind bei vielen kontinuierlich da, in ständig wechselnder Kombination und Intensität. Manche Patienten sind nur leicht davon betroffen und können ihre Symptome durch Vermeidung ihrer Trigger niedrig halten. Bei anderen werden sie lebensbedrohlich.
Und man muß täglich auf neue Herausforderungen reagieren.
“Jeder Tag ist wie ein eigenes Symptom-Lotto.”
Ich persönlich kann kaum eine Stunde im voraus abschätzen, wie es mir geht. Aber mit entsprechender Konsequenz in der Vermeidung von Triggern lassen sich zusätzliche Verschlechterungsphasen bei Mastzellerkrankungen etwas eindämmen.
Und die seltenen “guten” Stunden weiß man mit so einer Erkrankung sowieso schnell doppelt und dreifach zu schätzen.
Im zweiten Teil hinter diesem Link schreibe ich über die Diagnostik vom Mastzellaktivierungssyndrom.
Falls Du etwas über Dein Leben mit einer Mastzellerkrankung erzählen oder meinen Beitrag korrigieren bzw. ergänzen möchtest, schreib dies gerne unten in einem Kommentar dazu, damit es alle sehen und sich mit unterhalten können.
Ich freue mich auch übers Teilen auf Facebook & Co., denn nur so können wir andere potentiell Betroffene erreichen. Danke Dir!
Haftungsausschluß: Ich bin Patientin und keine Ärztin, Apothekerin oder sonstiges medizinisches Fachpersonal. Was ich hier schreibe, ist nur meine persönliche Erfahrung aus über 20 Jahren chronischer Krankheit und der intensiven Beschäftigung als Nicht-Medizinerin mit meinen Krankheitsbildern.
Ich versuche, Erklärungen zu medizinischen Sachverhalten so gut wie möglich zu recherchieren, kann hier aber medizinische Diagnose(n), Beratung und Behandlung durch einen Arzt nicht ersetzen. Da sich Forschung ständig weiterentwickelt und ich hier sowieso nur eine Einführung ins Thema bieten möchte, empfehle ich, sich selber weiter in die Themen hinein zu lesen.
Meine Texte dürfen nicht als Grundlage zur eigenständigen Diagnose und Beginn, Änderung oder Beendigung einer Behandlung von Krankheiten verwendet werden. Konsultiere bei gesundheitlichen Fragen oder Beschwerden immer einen Arzt Deines Vertrauens. (Sofern Du dort jemals einen Termin erhälst. 😉 )