Grund 2, nicht stante pede nach Stockholm auszuwandern

+++ Nichtauswanderungsgrund Nr. 2 +++
Bei der
Ankunft am Stockholmer Flughafen lief mir in einem engen Korridor
eine Dame entgegen.
Ich blieb stehen und ließ sie vorbei.
Dabei lächelte ich sie an.
Wie man das eben so macht.

Sie schaute mich an, als hätte ich mir die Bluse
aufgeknöpft.
Und ging weiter.
Ohne eine Miene zu verziehen.

Willkommen zurück in Schweden, Pia.

Hier sieht man
sich nicht einfach an.
Mein
“den-Menschen-in-die-Augen-schau-Verhalten” ist geradezu
obszön.

Auf den Straßen, in der U-Bahn, an der
Supermarktkasse versuchte ich in den folgenden Wochen den
Augenkontakt herzustellen, den ich aus Deutschland gewöhnt bin.

Aber es gelang mir nicht.
Es ist, als wäre man gar nicht
existent.

Auch, wenn man angerempelt wird oder hinter
jemandem ins Haus geht, ist man selten existent.
Als Deutsche
würde ich den Alltag als höflichkeitsbereinigt bezeichnen.

Bis
auf Hinweisschilder.
Auf selbigen sind die Schweden unübertroffen
freundlich.

Ein “Betreten verboten” habe ich
nirgends gesehen.
Und selbst die U-Bahn-Stimme weist einen bei
jedem einzelnen Halt liebevoll darauf hin, auf den Abstand zwischen
Zug und Bahnsteig zu achten.

Interessanterweise gilt Abstand
halten in Schweden als höflich.
Da wo ich her komme, nämmich
aussm schönen Pott, gilt Kontaktaufnahme als höflich.
Prallen
also Welten aufeinander.

“Ich finde es total
anstrengend, ständig allen Blicken auszuweichen und niemanden
anzulächeln”, seufzte eine junge Australierin beim Stammtisch.

Ein anderer drückte es drastischer aus: “Irgendwann hau
ich denen ihr blödes iPhone um die Ohren.”

Die Schweden
und ihr iPhone.
Eine bedingungslose Liebe.
Paßt perfekt zur
Mentalität: Kontakt ohne Kontakt.

Wenn in der U-Bahn 40
Leute sitzen, halten 39 davon den Kopf gesenkt.
Sie starren nicht
in ihren Schritt, um zu schauen, ob noch alles da ist.
Sie
schauen auf ihr iPhone.

39 von 40.
Der letzte ist vor
Tagen verstorben.

Hat nur niemand gemerkt.
Dazu müßte
man seine Mitmenschen nämlich ansehen.

Natürlich gibt es
Ausnahmen.
Meiner Erfahrung nach haben diese entweder einen
Migrationshintergrund oder schon einige Zeit im Ausland gelebt.
Und
mit Ausland meine ich jetzt nicht Finnland.

Diese
auslandsorientierten Schweden findet man via Couchsurfing oder in
Expatgruppen.
Bei den Eingeborenen haben sie keinen leichten
Stand.

“Was willst Du denn mit neuen Freunden? Du hast
doch uns zwei.”
Das müssen sie sich anhören, wenn sie
gestehen, fremde Leute zu treffen.

F-R-E-M-D-E L-E-UT-E.
Das
muß man sich mal vorstellen!

Der Durchschnittsschwede
scheint seine Freundschaften in Schulzeiten zu schließen.
Das
reicht fürs Leben.

Durch diverse Ehepartner kommt sowieso
noch das ein oder andere neue Gesicht hinzu.

Es ist also
nicht ganz so leicht für Ausländer, todesmutig eiskalte
Abstandsgräben zu durchschwimmen und emotionale Festungsmauern zu
erklimmen, um Eintritt in die schwedische Welt zu erlangen.

Wenn
man es aber einmal geschafft hat, findet man sehr liebe und treue
Freunde.
Leichter wird es mit einem schwedischen
Lebensabschnittspartner.
Hörte ich.

Die betörend
hübsche Optik der Schweden halte ich für eine Wiedergutmachtung vom
lieben Gott.

Als er die Eigenschaften der Schweden
zusammenrührte, löste sich der Deckel vom Töpfchen “distanziert”
und der Inhalt ergoß sich komplett in die Masse.
Er versuchte
noch, wieder etwas herauszufischen, doch die Zutaten hatten sich
bereits vermengt.

Verzweifelt kippte er eine Überdosis
“schön” hinterher.
Und das Ergebnis?
Läßt
Ausländer verzweifeln.

Hinzugezogene Männer wähnen sich
erst im Paradies.
Dann in der Hölle.

Sämtliche
Flirtstrategien prallen ab.
Die wunderschönen Frauen erschrecken
förmlich.
Und versteinern.

In knapp zwei Monaten sprach
ich Deutsche, Inder, Neuseeländer, Österreicher, Australier,
Engländer, Polen, Niederländer und Franzosen.
Keiner berichtete
von der erfolgreichen Eroberung einer Schwedin.
Nicht mal die
Italiener.

Ich hatte übrigens doch noch ein Date mit einem
echten Schweden.
Einem sehr attraktiven, echten Schweden.

Beim
Pre-Date-Googlen fand ich heraus, daß er früher für eine
internationale Modekampagne gemodelt hatte.
Als er noch jünger
war, als sowieso schon.

Um es kurz zu machen:
Es war..

.. ganz interessant.

Interessant, wie trotz des perfekten
Inga-Lindström-Klippen-Sonnenuntergang-Picknickdecken-Settings und
angeregter Unterhaltung mit einem appetitlichen Gegenüber null
Stimmung aufkommen kann.

Ich glaube, es gibt wirklich
länderspezifische Flirt-Codes, die wie Puzzle-Stücke ineinander
greifen müssen, damit gute Zutaten ein Menü ergeben.

Manche
Nationen passen zu vielen Ländern (Ciao bellissima..), andere
funktionieren eher unter sich.

Mein größter
zwischenmenschlicher Fremdkommunikations-Erfolg bestand aus einem
Wort.
Nachdem ich wochenlang penetrant im Treppenhaus jeden
Nachbarn grüßte, geschah am Tag vor meiner Abreise das Unfaßbare.

Meine Nachbarin sagte “Hej”.
Als Erste.

Ich
sah mich um, aber es stand niemand hinter mir.
Was für ein
Erfolg!

So wie bei der Immobilienlage steckt auch hinter
diesem Verhalten ein Konzept:
Respekt vor dem Leben des anderen
ist in Schweden sehr wichtig.

Das Einhalten der Privatsphäre
kann auch ungemein schön sein.
Wer jemals in Köln war, weiß,
was ich meine.

Es ist also alles relativ.
Ein
Nord-Süd-Gefälle.

Ich möchte nicht wissen, wie oft
Südländer, die zu uns nach Deutschland ziehen, abends mit dem Kopf
auf die Tischplatte schlagen und seufzen:
“Wie können die
nur so verstockt sein?”

Als ich in Düsseldorf landete,
fühlte ich mich wie im Paradies.
Am Kofferband lächelten andere
Passagiere, beim Rausgehen nickten mir Leute zu, in der U-Bahn machte
mir jemand Platz und kaum saß ich, fragte mich eine Dame nach dem
Weg.

Das war in einer halben Stunde mehr Interaktion mit
Fremden als nach diversen Wochen in Schweden.

Ich hätte sie
knutschen können.
Alle.

Neben der Immobilienlage ein
weiterer triftiger Grund, auch künftig nur als Teilzeit-Schwedin zu
agieren. 

© 2011 Texte und Bilder von Pia Ersfeld