Silvester

Leise nieselt der Schnee.

In die dünne weiße Schicht auf den Autos haben Kinder schon 2003 gemalt. Der Kiosk an der Straßenkreuzung beleuchtet die umliegenden Jugendstilfassaden. Kein Mensch weit und breit. Sie mag diese Stimmung.

Was sie nicht mag, ist die Vorstellung, gleich in eine Gruppe glücklicher Paare einzutauchen.

“Aber Du kannst doch nicht alleine zuhause bleiben!”, hatte die Gastgeberin entsetzt durch den Hörer geschickt. Da hatte sie noch gelacht. Vorgestern dann plötzlich die Zweifel, gestern das “Na gut.”

Ihre hohen Absätze unterbrechen rhythmisch die abendliche Stille.
Nur am quietschenden hohen Eisentor erkennt sie den richtigen Hauseingang.

Vom obersten Stock plätschert Jazz-Musik durch das spiralförmige Treppenhaus.
Vier Stockwerke und eines.
Immer, wenn sie meint, endlich angekommen zu sein, geht es doch noch weiter.

Drei Enddreißiger-Paare und sie, die mal ein Paar ist und mal nicht. Und ein Abend bis mindestens halb eins.

“Hallo, Carina. Die Zierde des Abends.”, schmeichelt der Gastgeber mit verschmitztem Unterton.

Etwas unschlüssig bleibt sie im halbdunklen Flur stehen und blickt auf die vielen Türen, während der Gastgeber ihren Mantel in der Garderobe verstaut.

Die Frauen sind in der engen Küche beschäftigt. Aus dem hellerleuchteten Raum dringt Gemurmel und vereinzelt Lachen. Sie ist ganz froh, daß sie nicht mehr hineinpaßt.

Sie streicht ihre halbgeöffnete Bluse glatt und betritt entschlossen das Wohnzimmer.

“Hallo, ich bin Carina.”, stellt sie sich den beiden Unbekannten vor.
“Frank”.
Der etwas Größere schüttelt ihr energisch die Hand. Sein Blick scannt ihren Ausschnitt in Bruchteilen von Sekunden. Was unmerklich wäre, bliebe am Ende nicht diese Andeutung eines Lächelns.

“Ich bin der Udo.”
Seine feuchte Hand liegt in der ihren. Ekel steigt in ihr hoch. Und ein Bild von unkontrollierter Körperbehaarung.

Während Frank sich mit einem forschen Spruch von der Seite in Erinnerung ruft, muß sie wie unter Zwang auf die Halsöffnung von Udos Hemd schauen.
Und da sprießen sie: dunkle, lange Haare auf heller, gelblicher Haut.
Als er zum Trinken ansetzt, glänzt vor ihr ein sichtbar unbeschadeter Ehering.
Manche Frauen schrecken auch vor nichts zurück, denkt sie verwundert.

Frank eröffnet mit den üblichen Frankfurter Fragen:
“Bei welcher Bank arbeitest Du? Keiner? Dann Unternehmensberatung! Komm, laß mich raten: McKinsey? Oder bei den Bergers? Würde beides zu Dir passen.”
Er hält das für ein Kompliment.
“Lufthansa.”
“Aaah!”

Begeisterung macht sich in ihm ebenso breit wie sein Mund. “Stewardess! War ja klar: groß, blond.”

Er hält ihre hochgezogene Augenbraue für eine Einladung und plappert munter weiter.

Sie ist es leid, Typen wie ihm zu erklären, daß eine Fluglinie auch andere Berufe beherbergt.

“Schatzi, kannst Du mal helfen?”
Von hinten nähert sich eine bedrohlich schmeichelnde Frauenstimme. “Hallo, ich bin Manon.”
Die attraktiv gestylte Blondine blickt ihr direkt in die Augen.
“Seine Frau.”

Ist ja schon gut, denkt Carina und lächelt beschwichtigend zurück.

Ob sie in einigen Jahren auch so reagieren wird, wenn mehr Fältchen als Männer ihr Leben bevölkern?

Die Gastgeberin, eine Investmentbankerin, steht mit dem Salatdressing in der Tür und bittet zu Tisch. Hinter ihr folgt ein großer Bauch mit einer mittelgroßen Frau.

An der Hand, mit der sie die stählerne Salatschüssel vor dem Körper balanciert, blitzt ein neuer Goldring.

Das ist sie also. Die Frau, die mit dem Behaarten verheiratet ist.

Und offensichtlich auch Sex hat, denkt Carina mitleidig.

Beide lächeln sich an.

Der Tisch ist quadratisch. Für drei Paare und sie.

Als Frank sich mit bemüht unbeteiligtem Gesicht neben sie setzt, fühlt sie die Blicke der anderen auf sich.

Ihr ist das unangenehm.

Sie wünscht sich plötzlich auch einen Partner. Für die Symmetrie und auch sonst. Vielleicht sind es genau diese kleinen Situationen, die die Menschen Paare bleiben läßt.

“Wir haben uns noch gar nicht unsere Namen gesagt. Ich heiße Carina.”, spricht sie die Schwangere an.
“Ich bin Sybille und er hat noch keinen Namen.”
Dabei tippt sie auf ihren riesigen Bauch, der das reinweiße Bellybutton-Shirt dehnt.
“Wie lange mußt Du denn noch?”
“Ich bin in der 35. Woche.”

Carina lächelt.
Diese Wochenzählung ist ihr immer ein Rätsel.
Aber sie mag nicht nachfragen.

Schnell beugt sie sich über den Tisch und bietet Sybille von dem Rucola-Salat an, der weiter entfernt steht.

Sybille blickt dabei auf Carinas schlanke Taille und sieht, wie die Blicke der Männer ihr folgen. Früher, da war sie auch so ansehnlich gewesen. Jetzt sieht sie nur noch in neutrale Augen. Diese verdammten neutralen Augen!

Die Männer schauen sie an, wie man ein parkendes Auto betrachtet oder ein Verkehrsschild.

Und selbst ihr Mann scheut sich inzwischen, die Aura der Mutterschaft zu durchbrechen, die sie umgibt. Nur einmal hatte er es noch gewagt.

Vor 35 Wochen.

Sie fühlte sich immer einsamer. Was hatte sie erwartet von einer eigenen Familie?

Sie sucht den Blick ihres Mannes, doch der sieht mit gerunzelter Stirn zu Frank und Carina hinüber, die sich angeregt über Fernreisen unterhalten.

Manon sitzt schweigend daneben. Ihre hohen Wangenknochen, von zartrosa Chanel-Puder bestäubt, zucken.

Mit leichter Verachtung im Blick greift sie zur WMF-Schüssel mit dem Tiramisu.

“Wahrscheinlich sind Sie einfach zu dünn”, hatte der väterliche Gynäkologe vor einigen Wochen zu ihr gesagt.
“Wenn ich fett werde, schläft mein Mann nicht mehr mit mir. Das kommt dann aufs Gleiche raus”, hatte sie bissig geantwortet.

Mühsam steckt sie die sahnige Kaffeemasse in den Mund. Sie braucht so lange, sich zum Schlucken zu überwinden, daß der breiige Klumpen schon ganz warm ist, als er sich durch ihre Speiseröhre zwängt.

“Was zieht sie denn nun schon wieder für ein Gesicht”, denkt Frank nach einem kurzen Seitenblick zu seiner Frau. “Ich halte dieses ständige Eifersucht nicht mehr aus.”

Trotzig dreht er sich zu Carina zurück. Die hat die Pause genutzt, um auf die Toilette zu verschwinden. Entnervt nimmt er einen tiefen Zug vom Chablis.

“Der Hahn im Korb”, schießt es dem Gastgeber durch den Kopf, als er Frank beobachtet. “Dieses Anbaggern habe ich mich nie getraut. Ach, wozu auch. Es ist schön mit ihr. Auch nach elf Jahren.”

Er lehnt sich bequem im Stuhl zurück und blickt seine Lebensabschnittspartnerin zufrieden an. Ihre langen braunen Haare umschmeicheln ihr offenes Gesicht, als sie mit Carina redet.

Sie spürt seinen Blick.
“Hab’ ich etwa noch was in der Küche vergessen?”

Die Stunden plätschern dahin.

Die sechs sind bei den Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit in der westfälischen Kleinstadt angekommen.

Als man Pennerglück von Aldi aus der Flasche trank und mit dem knatternden Mofa zum heimischen Bett raste. In der Hoffnung, die Mutter möge die fadefarbenen Bröckchen zwischen den fleißigen Lieschen am nächsten Morgen nicht bemerken.

Inzwischen sind daraus rasende Motorradfahrten geworden.
Lonely Rider, harter Wodka. Man hat nichts anbrennen lassen damals.

Mit Erinnerungen an ihre Zeit als Revoluzzer bereiten sich alle auf das Knallen der Champagner-Korken vor.

“Mann, waren wir wild damals.”, schließt Frank seine Erinnerungen und streicht selbstvergessen über die samtig geschliffene Kante seines Weinkelches.

Als die Paare sich um Mitternacht in die Arme fallen, weiß Carina nicht mehr, ob sie sie beneidet. Sie weiß eigentlich überhaupt nicht, was sie will.

Nur das Gefühl der Leere, das soll verschwinden.

Rastlos auf der Suche nach dem Puzzleteil, das die Lücke füllen wird, schwebt sie durch die Jahre.
Ab und zu, wenn sie die Wärme eines Bauches in ihrem Rücken spürt und kurz die Augen schließt, um teilzunehmen an dem regelmäßigen Atmen, ahnt sie, was fehlt.

Am Tisch wird jetzt über die Eigenheimzulage geredet. Und daß Reihenhäuser in Hattersheim eine besser Anbindung zur Kita haben.

Carina hört nicht mehr zu. Sie verspürt unbändige Lust, alleine zu sein.

Auf ihrem großen Holzbett mit den frisch duftenden, blau-weißen Bezügen möchte sie jetzt liegen.
Und in schönen Zeitschriften schmökern, bis die ersten Lichtstrahlen des neuen Jahres durch ihre weißen Vorhänge fallen.

Die Vorstellung, all dies tun zu können, ohne sich jemandem erklären zu müssen, versetzt sie in Euphorie. Die Armen hier am Tisch, denkt sie und blickt in die Gesichter mit den eingegrabenen Kompromissen.

“Seid mir nicht böse, aber ich bin ganz schön müde und verlasse Euch jetzt.”
Sechs erstaunte Augenpaare blicken in Carinas lächelndes Gesicht.

“Aber Du kannst doch nicht gehen? Die Party fängt doch gerade erst an zu krachen!”
Sie lächelt milde und versucht, ihr Bedauern glaubwürdig klingen zu lassen.

“Die Arme”, sagt Sybille zu der Investmentbankerin und streichelt sich über den Bauch. “Muß jetzt ganz allein nach hause.”
Beide nicken einvernehmlich, während sie die dreckigen Teller in die Küche tragen.

Mit lautem Klappern des Spülgeschirrs vertreiben sie schweigend die nagende Sehnsucht.
Draußen auf der Straße nimmt Carina einen tiefen Atemzug.

Die kalte Luft perlt frisch bis in die äußersten Winkel ihres Brustkorbs. Dann folgt sie dem Trottoir zum fernen Licht der U-Bahn-Station.

Und während ihre Füße die letzten Eiskristalle auf den grauen Steinplatten zersplittern, steigt ein warmes Gefühl in ihr auf.

Natürlich weiß sie auch zu Beginn des neuen Jahres nicht, wie ihr Zukunft einmal aussehen soll. Vielleicht würde sie ihr Leben lang die Suchende sein.

Nur das da oben, weiß sie jetzt wieder ganz genau, das will sie nicht.

Und mit dem beruhigenden Gedanken, es auch nie zu müssen, rennt sie plötzlich los und läuft lachend auf das Licht zu.

©  2007