Im ICE von Frankfurt nach Düsseldorf.
Es ist Freitag nachmittag.
Ich sitze auf einem Notklappsitz.
Meine Beine schlinge ich undamenhaft um einen Rollstuhl.
Meinen Rock kann ich somit künftig als Glockenrock tragen.
Auf meinem Schoß drückt mir meine Laptoptasche das Blut aus den Beinen.
Ich übe mich im Ausblenden der Umgebung durch konzentrierte Lektüre der FAZ.
Während ich versuche, die Tränen über den aktuellen DAX-Kurs runterzuschlucken, rieche ich Wurst.
Dann höre ich ein Geräusch, das entsteht, wenn man gekauten Wurstbrei bei offenem Mund zwischen den Zähnen hin- und herschiebt.
Es folgt ein rund zehnjähriges Kind in Öko-Stiefeln mit lustig-bunter Mütze.
So lustig bunt wie die roten Brillengestelle der Damen, die gerade vom Frisör “was Flottes, Frau Schmitz” verpaßt bekamen.
Ohne den Kopf zu drehen, weiß ich, wie die Mutter aussieht.
Blaß, ungeschminkt, naturgelockt und mit goldener Brille.
Dann betritt sie den Waggon: Blaß, ungeschminkt, naturgelockt und mit goldener Brille.
Lauthals deklamiert das Kind, daß es alle Hinweisschilder vorlesen kann.
Soweit ich das durch den Wurstbrei hindurch verstehe.
Ich bete, daß es nicht den Beweis antritt.
Die Mutter möchte einen Platz suchen.
Das Kind ordert im Kasernenton: “Du bleibst hier stehen. Ich will nicht sitzen.”
Die Mutter bleibt stehen, wo sie ist.
Das Kind setzt zu einem Vortrag über die Zugbeleuchtung an, die man auch noch in den Waggons hören wird, die vor fünf Minuten in Köln abgekoppelt wurden.
Die Mutter lehnt sich an die Wand. Sie sieht müde aus.
Sie könnte sich auf einen der freigewordenen Plätze setzen.
Macht sie aber nicht.
Der Chinese mir gegenüber zückt sein Handy.
“Mama, brüllt das Kind los, “DARF man hier im Zug telefonieren?”
Ja, sagt die Mama mit sanfter Stimme zu ihrem Blockwart, schau mal, da ist das Symbol mit dem Handy.
Der Chinese schaut mich an und ich den Chinesen.
Synchron ziehen wir eine Augenbraue hoch.
Mama, doziert das Kind, steht sofort auf. Du nimmst zuviel Platz weg.
Die spindeldürre Mama hatte sich ermattet in der Kofferecke auf den Boden gesetzt.
Jetzt rappelt sie sich auf und lehnt sich wieder an die Wand.
Der Chinese schaut mich an und ich…
Wenigstens ist das Wurstbreigeräusch jetzt vorbei.
Nach Mama, ich will Käse und Mama, ich weiß ganz genau, wie der Zug funktioniert, will das Kind eine Steckdose.
Es muß seinen Elektrowecker anschließen.
Damit es nicht verpaßt, auszusteigen.
Mir wird warm.
Ich meine mich zu erinnern, daß hinter meiner Jacke ein Anschluß war.
Ich überlege kurzfristig, dem Kind beim Aussteigen zu helfen.
Jetzt und hier.
Dann rettet mich ein zweites Kind.
Es stellt sich kurzfristig neben meinen Kandidaten.
Mama, darf der hier stehen?
Und schon ist die Steckdose vergessen.
Manchmal mag ich Kinder.
Öfter nicht.
Freitag war öfter.