Mein Schwedensommerglücksmoment hat 19 Grad..

+++ Seebadeglück +++
Über meinen ultimativen
Schwedensommerglücksmoment.
Von
einer Minute zur anderen ist er da, der ungebetene Gast.
Zuvor
eitel Sonnenschein – innen wie außen.
Alles ist spannend,
wunderbar, ich liebe die City.

Marschiere nach der Arbeit
durch die Straßen, verliebe mich in jedes zweite Haus, staune über
die Schönheit dieser Stadt, als sähe ich sie zum ersten Mal.

Aber
dann, eines Mittags, bekomme ich völlig unerwartet Besuch von einem
Fremden:
dem Stadtkoller.
In mir brodelt es und kleine, graue
Wölkchen ziehen von meinem Kopf zur Zimmerdecke.

Wenn noch
ein Krankenwagen mit Sirene an der Straßenecke vorbeirast, noch ein
Polizeiwagen zu Kommissar Becks Hauptquartier düst oder ein Bus
unter meinem Fenster im Stau steht und seine warme Ausdünstungen in
mein Küchentischbüro pustet, muß ich leider ausrasten.

Dann
renne ich runter und schlage stellvertretend einen von den Typen
zusammen, die sich in meiner Straße abends im Minutentakt an den
Hauswänden ihres teuren Bieres entledigen.
Mitten in der Stadt.

Büsche in Laufnähe.

Macht ja nix, wenn man morgens aus
dem Haus kommt und erst mal durch eine olfaktorische
Bahnhofstoiletten-Wand läuft.

Jetzt brauche ich ein paar
Stunden Natur.
Und wo ist sie leichter zu finden, als in
Schweden?
Precis.

Eine Freundin empfiehlt mir einen See
nahe Älta.
Einfach rein in die U-Bahn, einmal in den Bus
umsteigen, an einer einsamen Haltestelle heraushopsen und ratlos an
der Straße herumstehen.

Ich seh nur Wald.

Ich folge
einer Fußspur in selbigen.
Bei meinem Orientierungssinn so
risikoarm wie Base Jumping.
Nur langsamer.

Während ich
mich mutterseelenallein durchs Dickicht schlage, habe ich ausreichend
Zeit, nachzudenken.
Über Kommissar Beck zum Beispiel.
Oder
Aktenzeichen XY.
Zu viel Natur beunruhigt mich.

Dann sehe
ich durch die Bäume erstmals Wasser und frage mich, warum hier
niemand herumschwimmt.
Diese Frage kann sich nur eine Deutsche
stellen.

In Schweden gibt es über 90.000 Seen.
Bei
90.000 Seen auf 9 Millionen Einwohner müßte theoretisch die gesamte
Nation gleichzeitig ihre Arbeit niederlegen und ins Wasser hüpfen,
um wenigstens eine homöopathische Schwimmbeteiligung zu haben.

100
Menschen auf einen See.
Wenn im Starnberger See 100 Menschen
schwimmen, sind sie vermutlich alle über dieselbe Leiter ins Wasser
gestiegen.

Hier sieht man die anderen nur mit einem Fernglas.

Oder gar nicht.

Bis ich zum ersten Mal in meinem Leben in
Schweden in einen einsamen See hopste, dachte ich, Schwimmen generell
schrecklich zu finden.

Dann glitt ich durch die klirrende
Kälte, schaute auf die Bäume ringsherum und verstand: Es ist das
Ambiente künstlicher Schwimmbäder, das mich schüttelt.

Freibadunkultur, Menschen mit deutlich zu wenig an für ihre
Figur, Körperabfallprodukte im Becken, triefende Pommesschachteln
auf klobigem Männerbauch.
Das kann nur noch ein
Indoor-Freizeitbad toppen.

Jetzt habe ich die Felsen erreicht
und blicke über den stillen See.
„Komm, Pia“, lockt er.
„Du
und ich, wir sind ganz alleine.“

Das sind wir in der Tat.

Niemand weiß, wo ich bin.
Wenn ich mich beim Hineinkrabbeln
auf die Nase lege, kann ich schreien oder es lassen:
Es hört
sowieso niemand.

Aber genauso gut könnte ich zuhause in der
Wanne ausrutschen.
Und wie oft passiert das?
Eben.

Mit
diesen beruhigenden Gedanken streife ich Rock und T-Shirt ab und
klettere über die Felsen ins Wasser.

Das kalte Wasser
umfließt meinen Körper wie nachtblaue Seide.
Lautlos gleite ich
durch den See, begleitet vom wispernden Rauschen der Bäume.

Der
Wind streicht meinen Pony nach hintern, kurz tauche ich das Gesicht
in die Kälte und als ich wieder die Augen öffne, scheint die
Szenerie zu schön, um real zu sein.

Gleich wird eine Stimme
„Cut!“ rufen, dann schieben sie die Photowand zur Seite und
dahinter werden graue Betonwände die nahe Großstadt beweisen.

Aber niemand stoppt diesen Film und so läuft er weiter und
weiter und ich möchte in den Horizont schwimmen und nie mehr zurück
in die lärmende Welt, nie mehr Autos und Menschen, Rattern und Rufe,
einfach weiter schwimmen und nicht an morgen denken.

Nur
Fließen und Atmen.

Nein, dann taucht kein
Inga-Lindström-Schnuckel aus dem Dickicht auf, betrachtet versonnen
meine Schwimmzüge und reicht mir mit charmantem Lächeln mein
Badetuch, während ich graziös dem Wasser entsteige.

Statt
dessen krabbele ich weniger filigran über die glitschigen Steine,
bin aber mindestens genauso glücklich.

Minutenlang stehe ich
am Ufer des Sees und genieße das prickelnde Frösteln meiner nassen
Haut.

Gegenüber die schroffe Felswand.
Die schwedische
Natur ist so mächtig.
Man spürt die Gewalt, mit der sich die
Steine vor Urzeiten aufgetürmt haben.

Plötzlich bewegt sich
etwas in den Felsen gegenüber.
Ich kneife die Augen zusammen und
versuche, das eine Graubeige vom anderen Graubeige zu unterscheiden.

Es ist keine Kreislaufstörung, sondern ein Mensch.
Ein
splitterfasernackter Mensch.
Und wenn ich genau schaue, ein
splitterfasernackter Mann, der aufgestanden ist und zu mir
hinüberblickt.

Kraaaaatsch, macht es im Film.
Die Spule
reißt.
Doch der See ist zu breit, um sich Gedanken zu machen.

Und so spekuliere ich auf seine Kurzsichtigkeit und ziehe
mich in Ruhe an.

Von mir aus, darf er auch ruhig was
Weggucken.
Vor allem an den Hüften.

Um die
Orientierungsspannung zu erhöhen, wähle ich einen anderen Rückweg.

Nach rund 2km Waldmarsch höre ich plötzlich Stimmen.
Menschen!

Es gibt tatsächlich auch eine offzielle Badestelle an diesem
See.
Hier haben sie sich also zusammengerottet, die
fünfzehneinhalb Schweden mit ihren Kindern.

Für jene, die
es also gerne etwas geselliger haben, hier eine schöne
Freizeitanlage im Schwedenstil Hellasgården.

Und für alle anderen: einfach ein paar Busstationen weiter
fahren und alleine durch den Wald schlagen.
Macht eindeutig mehr
Spaß! 

© 2011 Texte und Bilder von Pia Ersfeld