Aktuell weiß ich oft nicht, was mich mehr erschüttert: der Krieg in der Ukraine selbst oder die immernoch häufig geäusserte Verwunderung westlicher Medien und Politiker über die Gewalttätigkeit und Radikalität Putins im Ukraine-Krieg.
Wir alle haben die – wie ich langsam befürchte – naive Hoffnung, auf dem Weg von Vernunft, Verstand und Verhandlung eine gute Lösung mit einem Diktator zu erreichen. Doch kann so eine Lösung jemals mehr als eine Okkupationspause sein, wenn man die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges betrachtet?
Ich bin nur ein kleines Licht, krankheitsbedingt seit Jahren völlig auf die minimalste Lebensorganisation wie Essen, Wohnen und Überleben konzentriert. Trotzdem kommt der Krieg ja auch in mein Krankenbett. Und beschäftigt mich genauso 24/7 wie Dich da draussen auch.
Diese Zerstörung anzusehen und dieses unendliche Leid, ist kaum zu ertragen. Wie bei jedem anderen Krieg.
Doch ist dieser Kriegs-Zug nicht schon vor vielen Jahren gestartet?
Nicht nur, daß da jemand seit über 20 Jahren (mit Unterstützung von vielen Wählern) zielgerichtet Schritt für Schritt jegliche Macht im Staat zentralisiert und ein autokratisches System etabliert hat. In Kooperation mit Verbrechern.
Leichen pflasterten diesen Weg. Zehntausende Leichen. Und wir haben vermutlich nur einen Bruchteil davon mitbekommen. Oder mitbekommen wollen.
Aber eigentlich doch genug. Oder nicht? Hätten wir nicht allerallerspätestens ab 2006 geballt aufhorchen müssen? Kritik an der Regierung konnte ab sofort als extremistisch bewertet und geahndet werden. Russische Staatsfeine “dürfen” seitdem auch im Ausland verfolgt werden.
- Auch 2006: Die mutige Journalistin Anna Politkowskaja wird ermordet.
- Wenige Monate später wird Alexander Litwinenko mit dem radioaktiven Polonium vergiftet. Und stirbt ebenfalls.
- 2013 stirbt Boris Beresowski in London. Der ehemalige Oligarch hatte sich wiederholt kritisch gegenüber Putin geäußert.
- Die einzig nennenswerte Alternative der Wahl 2018 Alexej Nawalny? Mit Nowitschok vergiftet und nun – vermutlich auf Jahrzehnte – im Arbeitslager.
Und Kriege gab’s nicht? Doch!
- Was war mit der anderen “Spezialoperation” in Tschetschenien? Unfaßbares Leid, unbeschreibbare Brutalität und Vernichtung. Bis 2009 zu dem Deal mit dem genauso brutalen Ramzan Kadyrow, der – egal mit welchen Mitteln – Stabilität herstellen soll. Und jetzt in der Ukraine assistiert.
- Die 1991 der Ukraine zugeteilte Krim wird 2014 auf bewaffnete Weise annektiert.
- In der umliegenden Donbass-Region wird seit 2014 gekämpft. Über 10.000 Menschen sind dabei bis heute gestorben. Über 10.000!
- 2018 rammt ein Schiff vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB Schiffe der ukrainischen Marine und setzt sie fest. Mal eben so.
Glaubt irgendjemand ernsthaft, daß ein Regierender, der all dies zu verantworten hat, auf Basis von Humanität, Vernunft und partnerschaftlichen Agreements noch zu erreichen ist?
Vor allem, wenn er sich inzwischen zusätzlich noch vom Sozialverhalten weiter negativ verändert haben soll?
Ist Angst ein gutes Argument?
In Georgien versetzen russische Soldaten wieder und wieder einfach die Grenzzäune und erweitern so das russische Staatsgebiet. Stille Landnahme.
Die Georgier haben Angst, Putin durch Widerstand zu reizen. So wie der Westen auch.
Ein Zentrum der Thematik aktuell: bloß Putin nicht reizen. Bloß schon vorher sagen, wo und wie man nicht eingreifen wird, wenn Putin dieses oder jenes Unrecht begeht. Um ihn nicht zu verärgern.
Das erinnert mich an Familien, in denen der Vater alle verprügelt und quält. Bloß Vati nicht reizen. Immer auf Zehenspitzen gehen. Nach ein paar Jahren sind dann alle selber davon überzeugt, daß es ihr Fehler sei, wenn Vati explodiert. Hätten sie sich ruhiger und braver verhalten, wäre das nicht passiert. Und Vati? Wird immer extremer. Sind ja keine Gegner da.
Ich stelle mir vor, wie Putin da im stillen Kämmerlein vor sich hin grinst. Was für eine Macht! Gut, das läuft gerade nicht so optimal in der Ukraine. Aber generell? Alle versuchen, ihn zu beschwichtigen. Wie wichtig er ist!
Was muß das für ein Gefühl sein für den kleinen Wladimir! Aus ärmlichsten Verhältnissen kommend, unattraktiv, wenig Chancen. Damit reiht er sich ein in die Reihen von Napoleon, Hitler und Co.
Solche Männer tragen – meiner Einschätzung nach – genug Material an narzisstischen Kränkungen in sich, um über jede Leiche zu gehen. Einen derart exzessiven Drive verspürt niemand, für den eine Grand École oder Harvard in Sichtweite waren. Und das macht es so schwierig, sich für eine adäquate Reaktion zu entscheiden.
Wer aufgewachsen und hochgestiegen ist wie Putin, hat gelernt, daß nur Brutalität bzw. das Aufrechterhalten eines konstanten Bedrohungspotentials nach aussen Macht generiert.
Erinnert mich an die Bushido-Geschicht aus der Rapper-Szene: da holt er sich die Unterwelt an seine Seite und wird gegen Gewinnbeteiligung beim Aufstieg beschützt.
Macht durch Einschüchterung, Angst, Lügen und Kontrolle trifft auf Macht durch Wahlen, Vernunft, diplomatische Bestrebungen. Haben wir mit unserem Vorgehen überhaupt noch eine Chance zu einer länger anhaltenden Deeskalation?
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