Bissken Sprengstoff, 2 verknotete Beine und 1 Schnitte: Frau E. fliegt

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Meine Stockholm-Woche? Ich sach nur: Schmerzen, Schmerzen, MCS-triggernde Wohnung mit Chemiewändern und 20 Topfpflanzen, die mir Schimmelpilzallergikerin den letzten Rest verpaßten.

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Meine Woche im Bild, äääh Bett

Kaum hatte ich mich mal 3 Minuten wohlgefühlt in Stockholm und mich mit dem ganzen Wohnungsdrama arrangiert, mußte ich zurück fliegen. Shit happens.

Standby-Fliegen ist nichts für Sicherheitsfanatiker

Ich habe ja 17 Jahre im Information Management für Lufthansa gearbeitet und behalte auch jetzt noch einen Ausweis, der mich zum vergünstigten Fliegen auf allen möglichen Airlines berechtigt. Deshalb fliege ich nach Stockholm, wie andere mit dem Sparpreis der Bahn von Hamburg nach Berlin.

Allerdings standby, also ohne Buchung und auf Restplätzen. Ich habe zusammengerechnet schon Woooochen auf Flugplätzen dieser Welt gelebt, weil ich nicht mehr nach Hause kam.

Das ist mir auf der Stockholm-Strecke in 20 Jahren kein einziges Mal passiert. Um ganz sicher zu gehen, habe ich diesmal sogar fest gebucht, das geht für einen höheren Preis auch. Was das gebracht hat? Nüscht.

Der Plan zum migränearmen Reisen war gut. Dann kam die Realität..

Warteliste. Und wer fliegt zuerst runter von der Passagierliste? Leute wie ich.

Plan: alles gaaaanz smooth zu machen. Smooth düse ich im wunderbar geruchsarmen Taxi zum Wegbringen meines Stockholm-Haushaltes, smooth falle ich in den Flygbuss und smooth versuche ich, mich durch den ganzen SAS-Prozess zu hangeln.

Mein Stockholmer Haushalt

Check-in am Automaten: Geht. Baggage-Tag am Automaten: Nö. Kurzes Durchdrehen. Blick auf die Baggage-Schlange. Langes Durchdrehen.

Vor mir einer mit Fahrrad, eine indische Großfamilie, 17 Kinderwagen, zwei Rentner, die ihr ganzes Gepäck nochmal umpacken wollten und einer, der versucht, ohne Perso zu fliegen. In meinen Gedanken bestelle ich eine Pumpgun.

ME/CFS läßt grüßen. Stehen ist so mit das Schlimmste. Direkt nach Treppensteigen. Erst mal ausruhen auf einer Bank und einen Liter Wasser kippen.

Murmeltiertag an der Sicherheitskontrolle

Zur Security schleppen. Wieder die indische Großfamilie.

Tackern die Frauen sich an geheimen Stellen den Körper mit Metall voll?? Jede muß 5x durchs Röntgen. Vor mir. Migräne tobt. Kann mir schlecht an der Security nen Sumatriptan-Schuß setzen. Bleib ich gleich gegroundet.

Dann ich. Fast nie muß ich öffnen. Die Handgepäckbestmmungen sind mir ins Hirn graviert. Heute muß ich. Heute. Heute!!!!!!!! Typ zerpflückt meine explosionsartige bis auf den letzten Millimeter gepackte Tasche.

1x, 2x, 3x durchs Röntgen, Typ zerpflückt immer weiter. Ich häng’ zerpflückt auf der Metallkante vom Laufband. Kollege guckt mich mit einem: Da sollen Sie nicht sitzen-Blick an. Ich schau mit einem: Gleich hast Du einen sitzen-Blick zurück.

Was um Himmels willen ist in meinem Gepäck???????
Feuchttücher! 5 Feuchttücher in einer Frischhaltetüte.

Also Leute: wenn ihr mal so richtig groß rauskommen wollt an der Sicherheitskontrolle: Feuchttücher.

Ich habe die Sachen natürlich nicht mehr IN der Tasche untergebracht. Nie mehr. Restliche Reise verbringe ich mich sortieren.

Mit Hackfresse zum Gate

Ein Junge wie frisch geschlüpft sitzt am PC. Ich melde mich wegen des Sitzplatzes. Er erstarrt vor Ehrfurcht. Gott, wie will der am Gate überleben auf Dauer? Da herrscht Krieg.

Mir schießt fast die Milch ein. Hätte ihm am Liebsten sofort einen anderen Job empfohlen. Zu viel Migräne für Berufsberatung jetzt.

Sieht schlecht aus, sagt er. Sieht schlecht aus, wäre in meinem Fall der sichere Tod. Wo soll ich dann hin?? In einem Hotel kann ich wegen der chemischen Gerüche nicht übernachten. So erschöpft wie ich bin, können die mich gleich mit dem Krankenwagen abholen. Der riecht aber auch nach Chemie.

Ich setze all meine argumentative Kraft aus 20 Jahren standby-Fliegen ein. Sieht trotzdem schlecht aus.

Blonde Schnitte auf 3 Uhr

Entnervt plumpse ich zwischen eine Louis Vuitton-Taschen-Trulla und eine schnittige, blonde Breitschulter-Kante.

Früher hätte mein Flirt-Tourette übernommen. Heute denke ich nur: früher hätte mein Flirt-Tourette übernommen.

Während ich da sitze und immer mehr in Panik gerate, die Nacht am Flughafen zu verbringen, fängt mein Hirn auf dem zweiten Denkweg an zu überlegen, woher ich die blonde Schnitte kenne.

Neben der Liebe zu Schweden habe ich eine Gemeinsamkeit mit Kronprinzessin Victoria: ich kann mir keine Gesichter merken. Null. Ich kann Jahre mit jemandem in einem Kurs sitzen, wenn der mir auf der Straße entgegenkommt, hab ich null Ahnung. Bin aber inzwischen super darin, trotzdem zu konversieren.

An die Geburtsgewichte der drei Kinder und den Namen des verstorbenen Hundes erinnere ich dann wieder. Wenn ich weiß, wer’s ist.

Einmal beflirtete ich einen schmucken Typ. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, fragt der mich: Ist das ein Rollenspiel?
Wieso??
Weil wir vor zwei Jahren einige Dates hatten und Du mich dann abserviert hast.
Ups..

Aber gut, man kann sich jetzt auch nicht sämtliche gutgebaute, blonde Endzwanziger merken. Das Drama geht weiter. SAS-Mitarbeiter bekommen Plätze. Ich nicht.

In meinen Augen flackert Wahnsinn auf. Ich renne zum WC und setz mir den goldenen Sumatriptan-Schuß.

Da bleiben oder Cockpit-Flug?

Ob ich bereit wäre auf Jump Seat im Cockpit zu fliegen? Ich bin zu allem bereit. Auch wenn Jump Seat so ungefähr das Unbequemste ist, was mir in meinem Zustand gerade einfällt.

Jump Seat im Cockpit ist großartig für Zwerge ohne Migräne, die immer schon mal vorne mitfliegen wollten.

Sich mit 15m langen Beinen breitbeinig auf einen winzigen Notsitz hinter die Piloten zu klemmen und die ganze Zeit aufzupassen, daß man ja nicht versehentlich einen Fuß entspannt und damit auf wichtige Knöpfe kommt, ist mit tosender Migräne so ungefähr das Letzte, was mich gerade erfreut.

Egal. Ich komme mit!!

Hektisch packe ich das Allerwichtigste aus meiner Handgepäcktasche in einen kleinen Beutel fürs Cockpit. Im Flieger strahlt mich eine nette Flugbegleiterin an: Good news! Ein Passagier ist abhanden gekommen. Ich bekomme einen richtigen Platz. Freudentanz!!

Voller Erleichterung plumpse ich auf den Sitz, kippe das ganze Zeug aus dem Beutel wieder in den Rucksack und suche meine MCS-Maske für den Flug. Beim Blick über den Gang nach links erblicke ich neben mir die blonde Schnitte.

Hätt’ schlimmer kommen können, denke ich. Irgendwie sieht er aus wie meine früheren “Ich studier an der Sporthochschule Köln”-Gelegenheits-Jungs.

Kenn ich den? Würde er sich ausziehen, könnte ich die Frage vermutlich beantworten. Macht er aber nicht.

Egal, ich habe den 35. Kacktag Migräne. Und seh aus wie ein eingetretenes Kellerfenster. Auf Männer ausgerichtete Hormone sind tot. Mausetot.

Während ich Rudimente von Entspannung im Hirn suche, stürzt die Flugbegleiterin schon wieder auf mich zu. I’m soooooooo sorry!

Das kann nichts Gutes verheißen. I’m sooooooo sorry. Ja, was denn nun? Muß ich wieder raus? Doch noch einer für den Platz aufgekreuzt. Ich muß ins Cockpit.

Jaule auf. Mein Platz, mein schöner Platz! Meine schwenkbare Rückenlehne. Na, wenigstens komme ich heute noch nach Hause. Wieder Tasche umpacken. Alle schauen, als würde ich gerade festgenommen. So fühle ich mich auch. Fest … genommen. Nur ohne happy end.

Fest nimmt mich der 3-teilige Anschnallgurt hinter den Piloten und tackert mich vertikal an das unverrückbare Brett, das sich Lehne nennt.

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Hauptaufgabe 2 als Gast im Cockpit: Klappe halten. Nur reden, wenn man angesprochen wird. Die Herren haben ja ordentlich zu tun, bis der Autopilot einiges übernimmt. Frage mich seit Jahren, wie die die 45.000 Anweisungen und Zahlenkolonnen für alles und jedes durchblicken.

Klappehalten fällt mir heute leicht. Bin damit beschäftigt, mich nicht auf 500 Knöpfe zu übergeben. Zwischendurch lenkt mich der dänische Pilot mit einer Dänemark-Führung aus der Luft von meinem Elend ab. Und endlich: Die Landung.

Am Kofferband schon wieder die blonde Schnitte. Der Arme muß sich langsam gestalkt fühlen, so oft wie die ausgelaugte Tante, die im Flugzeug abgeführt wurde, grübelnd zu ihm rüber schaut. Irgendwie verhält er sich die ganze Zeit, als wolle er nicht von anderen Menschen erkannt werden.

Auf dem Weg nach Hause dämmert es mir:
die Schnitte sah aus wie Felix Lobrecht. Vielleicht war er es auch. Wer weiß..

 

Für alle, denen der Comedian noch kein Begriff ist: Ganz mein Humor. Meistens. 😉