Über kalte und warme Armut.
Ein Blick hinter die Kulissen.
Wie sieht hier die Lebenswelt aus?
Zehn U-Bahnstationen vom Stadtkern entfernt, steige ich die Treppen hoch.
Im Zwischengeschoß liegt nicht ein Quotenobdachloser sondern rund fünfzehn.
Es riecht nach Urin, Hund und Schweiß.
Die Luft oben gewinnt auch keinen Bio-Preis.
Zur Linken Gleise und Umgehungsstraßen.
Rechts hinter einer tosenden Straße eine Fläche mehrerer Fußballfelder Beton.
In der Ferne erinnern Hochhausmassenunterkünfte an Dietzenbach.
Alles hier ist Grau.
Auf der Betonfläche lagern Müllhaufen.
Dazwischen kleine Hütten und Menschen.
Ich glaube, es sind Roma.
Sie stellen in Ungarn rund 7% der Bevölkerung.
Unzählige wohnen in Vororten wie diesen, ohne Wasser und Strom.
Ich fühle Blicke auf mir.
Die Umstehenden starren mich an, als wäre ich im roten Dior-Kleid vom Himmel gefallen.
Dabei trage ich mein „Ich reise allein durch eine Großstadt und will
nicht auffallen“-Outfit: Olivfarbener Parka, olle Buxe, dreckige
Sneakers.
Kosten zusammen vermutlich dennoch mehrere Monatslöhne der Umstehenden.
Zwei junge Männer überholen mich.
Dann bleiben sie stehen.
Sie verhalten sich auffällig unauffällig.
Normalerweise zähle ich zur furchtlosen Sorte.
Um zwei Uhr nachts allein mit der Subway durch die Bronx oder in den
Townships Kapstadts verfahren: hat mich nie wirklich gestresst.
Nun stehe ich hier und fühle, wie sich meine Kehle zuschnürt.
Wenn ich jetzt die große Straße überquere und zwischen in den
Plattenbau-Moloch eintauche, wird im Zweifelsfall nie jemand erfahren,
wo ich abgeblieben bin.
Ich höre auf meinen Bauch und gehe ohne Blickkontakt zurück zur U-Bahn.
Jemand ruft mir etwas hinterher.
Ich drehe mich nicht um.
Noch zwei Etagen bis zum Gleis.
Setze meinen „Komm her, wenn Du einen in die Fr.. willst“-Blick auf.
Und bin dankbar, 1,83m groß zu sein.
Vier Stationen weiter finde ich, daß ich etwas übertreibe.
Ich steige aus.
Keine Ahnung, wo ich bin.
Aber ich möchte mehr über die Lebensverhältnisse dieser Stadt erfahren.
Die Szenerie ist geringfügig besser.
In einem Park kommt mir ein Paar mittleren Allters beim Sonntagsspaziergang entgegen.
Beide tragen labberige Jogginghosen.
Und er eindeutig keine Unterwäsche.
Die Frau kann nicht klagen.
Die Straßen sind grau, die Häuser, die Haut der Menschen und ihre Jacken.
In diesem Stadtteil erinnert mich Vieles an Dokumentationen aus Bukarest.
Ich blicke in einen zerfallenen Hauseingang.
Hier kann niemand mehr leben.
Doch.
Im Hof bewegt sich etwas.
Eine Frau bückt sich über einen Zinneimer.
Sie wringt eine Bluse aus und hängt sie über eine rostige Metallstange.
Wir haben 11 Grad.
Selbst Sonne könnte in dieser Gegend nichts anrichten.
Beißende Armut schluckt jedes Lux.
Ich denke darüber nach, daß es warme und kalte Armut gibt.
Obwohl ich statistisch in Afrika schneller Todesopfer bin, habe ich
mich von der Armut dort nicht so extrem bedrückt gefühlt, wie hier.
Die Menschen in warmen Ländern tragen trotz schlimmster Verhältnisse oft noch ein Lächeln im Gesicht.
Hier bin ich nun seit drei Tagen und habe nur einmal jemanden lächeln sehen.
Sämtliche Kassiervorgänge verliefen mürrisch bis keifend.
Selbst in meinem internationalen 4-Sterne-Hotel hat es hartnäckiges
Grinse-Input erfordert, bis sich ein Mitarbeiter zu einem müden Lächeln
hinreißen ließ.
In den Straßen ist kaum jemand zu sehen.
Hier und da beugen sich Männer mit geschorenem Kopf über den Motor eines alten Autos.
Fensterscheiben sind zerbrochen, doch Plastikblumen und vergilbte Vorhänge zeugen von menschlicher Existenz.
Ich höre meine Schritte.
In der Ferne das Geräusch vorbeirasender Autos.
Anderthalb Stunden dauert der Weg zurück zum Hotel.
Anderthalb Stunden, sich über seine Privilegiertheit Gedanken zu
machen, über den Kommunismus, über die Frage, wie lange ein Land
braucht, um sich davon zu erholen.
Und wie lange die Menschen.
Erst kurz vor meinem Hotel werden die Häuser annehmlicher.
Zurück in meinem designten Executive-Zimmer atme ich tief ein und aus.
Dann stelle ich mich lange unter die warme Regendusche.
Später sitze ich in meinem Bett und esse Leckeres aus Take Away-Schachteln, während ein Film auf dem Flatscreen läuft.
Und schäme mich ein wenig.
Keine 300m entfernt ist die Welt grau und kalt.
Auf dem Rückweg am Flughafen kostet eine kleine Flasche Wasser 1000 Forint.
Das sind rund 3,70 Euro.
In Nizza kostete sie 2,- Euro.
Jetzt weiß ich, wie sich der Staat sanieren will.
Aus Protest beschließe ich, zu verdursten.
Der Vorsatz hält fünf Minuten.
Dann trinke ich Leitungswasser.
Anschließend überlege ich, welche Symptome eine Aluminiumvergiftung auslöst.
Und daß eine Reise mit derart gemischten Eindrücken doch toller ist, als positiver Einheitsbrei.
Ein Reise-Quickie in eine Stadt mit großen Gegensätzen führt zu polarisierenden Ergebnissen.
Wie ein realer Quickie auch.
Schönheit liegt eben im Auge des Betrachters.
Wer jemals fassunglos vor einer frisch verliebten Freundin und ihrem Neuerwerb stand, weiß, was ich meine.
© 2010 Texte und Bilder von Pia Ersfeld