Jeden Tag würde ich gerne etwas Neues in Stockholm entdecken. Ein wenig ehrgeizig, wenn man bedenkt, daß ich hier tagtäglich wie in Düsseldorf auch von zuhause aus arbeite. Aber ich spare Haushaltszeit: in dem studentischen Zustand, in dem ich mich hier bewege, machen detailversessene Reinigungsaktionen ohnehin keinen Sinn.
So eine Einzimmer-Bude hat auch ihre Vorteile: wo nichts ist, kann auch nichts stauben. Ich entwickele mich zur Minimalistin. Das muß ich auch bei den gefühlten fünf Kleidungsstücken, die ich dabei habe.
Und mein einer Teller und meine eine Teetasse erfordern ebenfalls kein stundenlanges Spülprogramm. Wie schnell man sich doch an eine veränderte Lage anpassen kann!
Am späten Nachmittag geht los. Das Wetter ist trüb und kühl, deshalb bleibe ich im Umkreis. Långholmen ist mein Ziel, eine kleine Insel, die genau zwischen meiner Location Kungsholmen und Södermalm liegt. Sie sieht aus, als hätte der liebe Gott einen Klumpen Felsen übrig gehabt und achtlos ins Meer geworfen.
Hinter der Brücke ein Schild nach links („Parkeringsplats“) und eines nach rechts („Slipvillan“). Ich entscheide, kein Auto zu sein und folge dem kleinen Pfad in den Wald.
Rote Schwedenhäuschen säumen meinen Weg. Unglaublich! Ich bin mitten in der Metropole des Nordens und hier sieht es aus wie in Bullerbü.
Der Eindruck hält nur kurz. Dann kommen keine Häuser mehr. Vor mir schlängelt sich der schmale Pfad durchs Gebüsch. Die sorgfältig ausgedruckten Wegweiser zur „Slipvillan“ fallen plötzlich deutlicher ins Gewicht.
Hmm, denke ich, Slipvillan… Heißt das Schlüpferhaus? Ich blicke vor und zurück.
Dann taste ich nach meinem Handy. Wie gut, daß ich vorhin noch für alle Fälle den schwedischen Notruf eingespeichert habe. Weniger gut, daß es jetzt auf meinem Küchentisch liegt.
Im Zweifel kann man nicht mal meine Leiche orten. Aber Wallander und seine Kollegen werden es schon richten. Besagte Slipvilla liegt versteckt auf buschigem Gelände. Schnell haste ich vorbei.
Plötzlich wird der Pfad noch schmaler. Links die Felswand, rechts ein Zaun und ich mittendrin mit der Frage, was klüger ist: Weiter in eine Sackgasse marschieren oder beim zweiten Vorbeimarsch potentielle Freier aufschrecken.
Das Leben schreitet voran, also auch ich. Wie ein Hase springe ich den schmalen Pfad entlang. Man muß ja auch nicht zwangsläufig ermordet werden, nur weil das Setting aussieht wie bei „Aktenzeichen XY“. Und weil man einmal sein Handy vergißt.
Das Kausalitätsprinzip greift hier nicht. Hoffentlich.
Vor mir erscheint eine kleine Bucht. Und M-E-N-S-C-H-E-N. Selten habe ich mich in einer Millionenstadt so über Menschen gefreut! Ich sinke auf einen Felsen und futtere erst einmal eine Packung Ballerina-Kekse. Vor mir liegt die Skyline meiner Lieblingsstadt. In mir fix fünfzehn Kekse.
Zurück in meiner Bleibe lasse ich mir von Google erklären, was es mit der Slipvilla auf sich hat. Das Ergebnis ist ja schon ein wenig peinlich. Doch.
Aber ich sage es trotzdem: Sie ist ein Kulturhaus für Künstler und Kinder. Vielleicht habe ich einfach zu viel Phantasie.
Abends fahre ich nach Södermalm zu einem großen Gruppentreffen. Der Himmel ist immernoch bewölkt. Es nieselt leicht. Aber wir sitzen draußen. Schweden frieren nicht.
Ihre Kleidung richtet sich nach dem Kalender. Spätestens ab 1. Mai tragen die Frauen Spaghettiträgertop und Minirock. Für sie scheint es irrelevant, ob es regnet oder schneit.
Sie sitzen auch draußen, bis erste Körperteile blau anlaufen. Ein entsprechener Alkoholpegel unterstützt, den Zeitpunkt hinauszuzögern. Da ich keinen Alkohol trinke, wird mein Ausländerstatus schnell entlarvt.
Um 18.30 ziehe ich meinen Pulli an.
Um 20.00 ziehe ich meine Jacke an.
Um 21.00 spüre ich meine Füße nicht mehr.
Um 22.00 gehe ich nach Hause.
Um 8.30 wache ich niesend auf.
Ich bin definitiv keine Schwedin.