Früh- und Akutstadien von Abschiedsschmerz

+++ Der Abschied naht… +++
Juchzend
springe ich über eine riesige Rasenfläche im Stockholmer Stadteil
Gärdet und versuche, Nellies kleinem Hund den Ball abzujagen.

Der
Himmel ist dunkelblau, die Wiese sattgrün und ich puterrot im
Gesicht.
Am Ende gewinnt der Hund.

Ich rede mich damit
heraus, daß er vier Beine hat.
Was angesichts seiner Beinlänge
selbst für Nichtmathematiker ein schlechter Witz ist.

Lachend
ziehen wir weiter.
Plötzlich durchzieht es mich wie ein
gefrostetes Stahlschwert.

Das könnte das letzte Mal sein,
daß wir beide mit dem Hund spazierengehen.
Es könnte auch das
letzte Mal sein, daß wir hoch oben im 8. Stock auf dem Balkon
sitzen, uns die Ohren heiß plaudern und dabei auf die untergehende
Sonne über meiner Traumstadt schauen.

Von diesem Moment an
vermehren sich die letzten Male wie Fruchtfliegen am Saftglas.
Und
werden kleinteiliger.

Die erste und gleichzeitig letzte
Clubnacht, rauschend gefeiert, als gäbe es kein Morgen.
Das
letzte Mal am Kungsholmer Strand joggen.
Das letzte Mal im
DagsLivs einkaufen.
Das letzte Mal meine Straße hinauflaufen.

Das letzte Mal aus dem Küchenfenster in den schwedischen
Nachthimmel sehen.

Jedes letzte Mal versetzt mir einen Stich.

Am letzten Morgen stehe ich durchlöchert zwischen meinen Koffern
und Taschen und kann nicht mehr denken vor lauter Abschiedsschmerz.

Vor sieben Wochen ließ ich mich in diese Welt fallen.
Meine
eigentliche Heimat blendete ich komplett aus.

Ich habe viel
gekämpft am Anfang, aber es hat sich mehr als gelohnt.
Mein
Ziel, einen Sommer mit weniger Migräne zu erleben, habe ich zu 100%
erreicht.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte
Mal so frei entscheiden konnte, ob und wann ich vor die Tür gehe.

Normalerweise bestimmt die Schmerzskala in meinem Kopf meinen
Aktionsradius.

Jede Schwüle, jeder Temperaturwechsel und
jedes Gewitter bewirken unerträgliche Tage, an denen ich im
Stundentakt zwischen meinem Arbeits-PC und meinem abgedunkelten
Schlafzimmer hin und her pendele.

Trotz Großstadt-Verkehr
hat Stockholm ein fantastisches Klima:
selbst bei höheren
Temperaturen weht immer eine leichte Brise, die einem mit frischer
Seeluft den Kopf frei pustet.

In einer Stadt, die auf 14
Inseln erbaut ist, muß man nie mehr als zehn Minuten laufen, um
Wasser zu erreichen.

Mein Sommer in Stockholm hat mir einen
Zustand geschenkt, den ich schon vergessen hatte.
Dafür bin ich
dankbar!

Als Add-on habe ich wahnsinnig nette Menschen aus
aller Herren Länder kennengelernt.

Dazu mußte ich
allerdings eine Barriere überwinden:
meine jahrelang sorgfältig
kultivierte Facebook-Aversion.
Ohne Facebook ist man in Schweden
nicht existent.

Fast täglich hörte ich:
“Das
nächste Treffen posten wir auf Facebook.”

Die erste
Zeit widerstand ich noch.
Dann warf ich mich der Datenkrake zum
Fraß vor.
Und habe es bisher nicht bereut.

Wie eine
schwedische Freundin mir verriet, ist Facebook u.a. deshalb so
populär, weil schwedische Frauen gerne darstellen, was sie erreicht
haben.

In Schweden sei es nämlich wichtig, ALLES zu
schaffen:
eine attraktive Frau und schlanke, wohlgekleidete
Mutter mehrerer süßer Kinder zu sein, die das perfekte Haus wie aus
dem Katalog einrichtet und dazu noch einen erfolgreichen,
gutaussehenden Mann an ihrer Seite präsentieren kann.

Probleme
gibt es nicht.
Alles ist immer wunderbar.

Und so findet
man unzählige gut ausgeleuchtete Detail-Fotos von Tischdekos,
Mosaik-Kachel-Badezimmern und farblich abgestimmten Familien auf
schwedischen Facebook-Pinwänden.

Getoppt wird dies von
Einrichtungs-Blogs, in denen Frauen neben ihren Möbeln nahezu jedes
neu erworbene Kleidungsstück photographieren und mit Hinweis auf die
(Nobel-)Marke ins Internet stellen, z. B. House
of Philia
.

Was dort zu sehen ist, finde ich sehr hübsch.

Dennoch
scheint mir das ganze Procedere recht anstrengend.
Ich stehe zu
meiner Faulheit.

Bevor ich mit einem Zoom-Objektiv meinen
ganzen Kleiderschrank ablichte und ins Netz stelle, sitze ich lieber
in einer Lotter-Jeans auf dem Sofa und lese ein Buch.

Aber
ich bin ja deutsch.
Auch wenn ich das in den letzten Wochen
geflissentlich verdrängt habe.

Nun heißt es, die
Tränendrüsen zusammenkneifen, sich nicht am Check-In-Schalter
festzuketten und den kurzen Weg in eine geistig weit entfernte Welt
zurück zu fliegen.

Ich plumpse auf Sitz 7C und richte mich
darauf ein, zwei Stunden vor mich hin zu frusten.
Klappt aber
nicht.

Neben mir sitzt nämlich eine ausgesprochen
sympathische Dame, mit der ich ins Gespräch komme, als ich die
Dagens Nyheter beiseite lege und ein deutsches Buch aus meiner Tasche
ziehe.

“Ich dachte, Sie wären Schwedin.”
Jetzt
mag ich sie wirklich.

Zwei Stunden quasseln wir und ehe ich
mich versehe, stürze ich mich kopfüber aufs Gepäckband und zerre
meine Rimowa-XXL-All-Wheel Alu-Schrankwand vom Band.

Dann
öffnet sich die Flughafentür und mein Kopf taucht in eine wabernde,
warme Suppe ein.
Mir wird schlecht.
Schlagartig schlagen alle
vergessenen Gesichtsnerven Alarm.
Genau das habe ich nicht
vermißt.

Inzwischen sind drei Tage vergangen.
Mein Kopf
jammert ununterbrochen über die schwüle, sauerstoffarme Luft.
Und
ich jammere ununterbrochen über meinen Kopf.

Und jeder, dem
ich erzähle, wie wunderbar es mir dagegen in Stockholm ging, stellt
die eine logische Frage:

Warum ziehst Du nicht ganz dahin?

Und meine Antwort?

Gibt es in Teil 13…
© 2011 Texte und Bilder von Pia Ersfeld