Der Text für Lesefaule |
Vor ein paar Tagen las ich auf Facebook eine dieser unsäglichen Grafiken.
So unsäglich, daß ich sofort vergaß, wer sie über seine Chronik vor meine Augen schleuderte. Tenor: Alle, die ihren Satz mit “Ich bin kein Nazi, aber..” beginnen, seien Untermenschen.
Natürlich bereits 77.000x geteilt und mindestens 3 Millionen mal gelikt.
So gehört sich das. Man ist ja ein guter Mensch und gehört nicht zu diesen.
Ja, zu welchen eigentlich?
Zu denen, die weiter, als bis zum nächsten Like-Button denken?
Die auch die breite Palette langfristiger Konsequenzen und To Dos im Auge behalten?
Die nicht nur Einzelschicksale betrachten, sondern die Gesamtheit und auch potentielle Grenzen?
Intelligente Menschen erkennen bei jeder Entscheidung ein Für und ein Wider. Meistens sogar viele Fürs und viele Widers. Es gibt keine einzge Lebensentscheidung, die kein Aber beinhaltet.
Wer pfiffig ist, realisiert die Abers vor einer Handlung und optimiert diese entsprechend, bevor er sie ausführt. Die anderen lernen erst aus der Realität, daß es Abers gab. Das führt selten zu einem guten Ergebnis.
Im Falle einer übereilten Hochzeit mit dem unbekannten Hotelboy in Las Vegas ist das harmlos. Bei so umfangreichen Prozessen wie der Aufnahme von rund 800.000 Flüchtlingen allein in 2015 nicht.
Wenn wir eine so große Menge Menschen integrieren möchten, sollten wir organisatorisch und mental aufs Beste vorbereitet sein. Es handelt sich schließlich nicht um eine Aktion, die in zwei Wochen beendet ist.
Oder glaubt jemand, daß die Tagesschau in drei Monaten die Befriedung Syriens verkündet und dann mal eben – zack zack – das niedergebombte Land wieder bewohnbar ist?
Es werden Jahre vergehen, bis dieser Zustand eintritt. Und wer weiß, wieviele der Kriegsflüchtlinge dann noch bereit sind, ihre Kinder erneut aus ihrem – jetzt deutschen Umfeld – herauszureißen, um ihre alte Heimat wieder aufzubauen.
Menschen sind unfaßbar wertvoller und sensibler als Wirtschaftsgüter, die wir von A nach B schieben. Wir übernehmen eine Verantwortung über einen langen Zeitraum. Mit Willkommensfesten allein ist es nicht getan.
Ich bin für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten. Gleichzeitig gestatte ich mir ein Aber.
Allein um darüber nachzudenken, was das mit einer Bevölkerung macht, wenn schlagartig rund 1% davon schwert traumatisiert sind, (noch) nicht unsere Sprache sprechen und aus einer für die meisten von uns persönlich nicht bekannten Kultur kommen. Und wie wir dies abfedern können.
Ich verwehre mich dagegen, mich zwischen Schwarz und Weiß zu entscheiden! Diese Situation lösen wir nur mit Grautönen. Ich möchte in einem Land leben, in dem es möglich ist, komplexe Situationen auch komplex zu diskutieren. Und nicht via Like-Button in radikale Lager verschoben werden.
Man muß schon den IQ eines Knäckebrots haben, um bei diesem Thema “Bist Du nicht vorbehaltlos dafür, bist Du dagegen!” herauszutröten. Aber mit Intelligenz ist das ja so eine Sache. Sie ist genauso pyramidal verteilt wie Schönheit, Reichtum und lupenreine Diamanten. Von wenig gibt es viel und von viel wenig.
Nun hat das viele Wenig durch die sozialen Medien ein Instrument erhalten, das viele Wenig zu demonstrieren. Und schon erhält jedes Radikalität der einen Seite eine Gegenradikalität.
Was sollen diese 100%-Bedenkenlos-Pro-Flüchtlinge-Postings in den sozialen Medien denn bitteschön bringen?
Glaubt Ihr, daß auch nur ein Nazi Muskelschwäche im rechten Arm bekommt, wenn er sieht, daß so ein Sinnspruch 200.000x gelikt wurde?
Ich vermute eher, daß es die andere Seite noch anspornt: Jippieh, eine knallharte Front! Schaut mal, wir sind wer. Wir werden wahrgenommen. Und wie niedlich, nun schießen sie Wattebäuschchen auf uns.
Für mich ist das radikale Aburteilen, das in diesen Postings praktiziert wird, moralisches Herrenmenschentum.
Und unterscheidet sich rein strukturell damit kaum von dem Vorgehen derer, gegen die es sich richtet.
Gleichzeitig wird das rechte System dadurch verharmlost.
Rechtsradikalismus basiert auf etablierten Strukturen in ganz Deutschland. Diejenigen, die marodierend durch ostdeutsche Kleinstädte ziehen oder an bayerischen Stammtischen Parolen lallen, sind nur die Ameisen im Gefüge.
Ohne intelligente Köpfe, die ihre negative Gesinnung strukturieren und leiten, würde diese Vernetzung nicht funktionieren. Es gilt also, nicht nur unsere Gäste vor dem Ameisenaufstand zu beschützen, sondern gleichzeitig hart und konsequent gegen rechtsradikale Organisatoren durchzugreifen.
Deshalb verzichtet doch auf weitere 638.000 “Gutmensch”-Postings, auch wenn Euer Herz (oder Eure PR-Berater) dazu drängen. Laßt dieses Thema nicht zur Ice-Bucket-Challenge 2015 werden. Unsere neuen Gäste brauchen langfristiges Engagement und keine einmalig aufschäumende Social-Media-Aktionismus-Welle.
Stellt doch statt dessen lieber Eure Vorschläge ins Netz, wie wir am Besten mit den vielen leidgeprüften Menschen umgehen. Es gibt immer wieder Ideen, die noch nie gedacht wurden.
Und dann hätten wir wirklich mal einen sinnvollen Beitrag auf Facebook & Co..